Hayeks Kritik am Konstruktivismus – oder: Die Rettung des Konstruktivismus vor dem Konstruktivismus

Der Begriff „Konstruktivismus“ kann unterschiedlich verstanden werden. Daher wollen wir hier ein Konstruktivismus-Verständnis kritisieren und abwehren, das insbesondere in der sozialphilosophischen Perspektive des neueren Liberalismus, vor allem von Friedrich August von Hayek (1970) als äußerst problematisch bewertet wird. Demnach wird das Wort „Konstruktivismus“ „als spezifische Bezeichnung einer Einstellung [definiert], die bisher gelegentlich ungenau durch das vieldeutige und daher irreführende Wort Rationalismus bezeichnet worden ist“ (ebd.: 210). Der Grundgedanke der konstruktivistischen Auffassung, die Hayek kritisiert, lautet, „daß der Mensch die Einrichtungen der Gesellschaft und der Kultur selbst gemacht hat und [er] sie daher auch nach seinem Belieben ändern kann“ (ebd.). Diese Auffassung sei grundsätzlich abzulehnen.

Wie etwa Sprachen, die Menschen nicht bewusst erfunden und eingeführt haben, sondern die sich über Jahrtausende durch das nicht bewusste Zusammenwirken der Menschen ungeplant herausbilden, so seien auch Gesellschaften und Kulturen ein Produkt nicht geplanter, häufig spontaner Ordnungsbildung. Die Menschen erschaffen, konstruieren zwar durch ihr Zusammenwirken die sozialen Beziehungen, Ordnungen und schließlich die gesamte Gesellschaft; dies geschieht jedoch in einer Weise, die hinsichtlich ihrer Folgen nicht planbar und vorhersehbar ist. Oder in Hayeks Worten formuliert (ebd.: 218): „Daß eine solche Ordnung, die zur Nutzung von viel mehr Wissen führt als jemand besitzt, nie ‚erfunden‘ werden konnte, folgt daraus, daß die Folgen nicht vorausgesehen werden konnten. Niemand sah voraus, daß die Sicherung von Eigentum und Vertrag zur Arbeitsteilung und Marktwirtschaft, oder daß die Ausdehnung der zunächst nur für Stammesangehörige geltenden Regeln auf den Fremden schließlich zur Bildung einer Weltwirtschaft führen würde.“

Hayek wehrt mit seiner Kritik des rationalistischen Konstruktivismus alle Versuche ab, das Leben der Menschen, die sozialen Beziehungen, die Gesellschaft und die Kultur schlechthin im planwirtschaftlichen Sinne steuern, zielgerichtet und ergebnisorientiert herstellen zu wollen. Die spontane Ordnung der Gesellschaft durch eine vermeintlich zweckrationale Konstruktion der Gesellschaft ersetzen zu wollen, hieße, die Gesellschaft selbst zu zerstören. Zumindest hat die soziale Evolution, die weltweite Entwicklung von Gesellschaftsordnungen bisher gezeigt, dass geplante Sozialordnungen im Wettbewerb mit sich spontan und frei entwickelnden Sozialformen diesen unterlegen sind. Auch wenn nicht ausgemacht ist, wie sich die noch am Sozialismus orientierenden Staaten wie China, Kuba, Korea und Venezuela weiter entwickeln werden, so ist doch der Zusammenbruch des osteuropäischen Realsozialismus ein Beispiel für die Überlegenheit der freien und spontanen Sozialordnung gegenüber der geplanten und gesteuerten.

Des Weiteren ist die zielgerichtete Gesellschaftssteuerung unmöglich, geraten die rationalen Planer immer wieder ins Stolpern (vgl. Vogel 1991), weil keine noch so rational funktionierende zentrale Steuerungskommission dazu in der Lage wäre, all das Wissen, die Informationen über die unzähligen Variablen, die die Gesellschaft prägen und vorwärts entwickeln, zu sammeln und zu einem passenden Bild zusammenzufügen. Wie Hayek (etwa 1945) zeigt und wofür er im Jahre 1974 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft ausgezeichnet wurde, ist das Wissen dezentral und sehr unterschiedlich verteilt. Gerade diese Dezentralität, die mit einer hohen Unterschiedlichkeit einhergeht, schafft die nötige Vielfalt innerhalb der Gesellschaft, die Pluralität von individuellen Präferenzen und Perspektiven, die Neues hervorbringt, zu neuen Ordnungen und Entwicklungen führen kann, die uns möglicherweise überraschen, manchmal gefallen oder enttäuschen.

Nochmals gesagt, die Gesellschaft wird zwar durch menschliches Handeln und Kommunizieren geschaffen, immer wieder erneut hervorgebracht, dies vollzieht sich jedoch ungeplant, spontan, selbst organisiert. An diese These von Hayek können wir mit der Unterscheidung von Foerster (1981; 1988) zwischen trivialen und nichttrivialen Systemen anschließen. Demnach lassen sich unsere Körper (biologische Systeme), unsere Psychen (psychische Systeme) und unsere sozialen Systeme (etwa die Gesellschaft) als nichttrivial bewerten, während beispielsweise die Gesetze der klassischen Physik (z. B. die Gravitation) oder die Mechanik trivialer Natur sind.

Triviale Systeme sind hinsichtlich ihrer Reaktionsweisen vorhersehbar, ihre Ergebnisse können geplant und gesteuert werden. Die Regeln, nach denen triviale Systeme operieren, sind fest, nicht veränderbar und analytisch erkennbar, sie folgen dem Kausalprinzip von Ursache und Wirkung. Offensichtlich gehorchen biologische, psychische und soziale Systeme diesen trivialen Prinzipien nicht. Diese Systeme sind nichttrivial, weil sie eigene interne Strukturen ausbilden, die von außen, aber auch von den Systemen selbst hinsichtlich der Vielfalt der aufeinander wirkenden Variablen und Bedingungen nur begrenzt erfasst und beeinflusst werden können. Diese Systeme lassen sich in ihren Reaktionen nicht eindeutig festlegen, sie bewegen sich in einem Möglichkeitsraum, der Ereignisse herausfordert, die nicht notwendig, aber auch nicht beliebig, sondern die kontingent sind (vgl. Luhmann 1984). Kontingenz bezeichnet die Freiheit nichttrivialer Systeme, die Eigenschaft, dass diese Systeme nicht determinierbar sind, dass sie sich, so wie sie sich verhalten, verhalten können, aber eben auch anders – im Kontext eines Rahmens zahlreicher Möglichkeiten.

Als simples Beispiel können wir an unseren Körper denken, daran, wie dieser auf ärztlich verordnete Medikamente reagiert, die Krankheitssymptome lindern sollen. Wir müssen nur in die Packungsbeilage hineinschauen, um die körperliche Nichttrivialität zu reflektieren. Dort finden wir nämlich die Angabe von Risiken und Nebenwirkungen. Das Medikament kann so wirken, wie es etwa vom Arzt versprochen wird, aber auch anderes. Der Körper reagiert in einer Weise, die nicht vorhergesehen werden kann, die kontingent ist. Zu viele unterschiedliche Variablen und Bedingungen sind miteinander vernetzt, wirken aufeinander, beeinflussen sich gegenseitig, so dass die Kausalanalyse in nichttrivialen Systemen scheitert. Die Kontingenz dieser Systeme ruht auf deren Komplexität, auf deren Vielfalt der unterschiedlichen Faktoren und Variablen, die die Systeme intern wie extern prägen und deren Unvorhersehbarkeit bedingen.

Was nichttriviale Systeme auszeichnet, ist ihre Selbstorganisation, ihre eigendynamische Strukturbildung. Foerster (1981; 1988) beispielsweise hat gezeigt, dass diese Strukturbildung, das Phänomen, das Hayek (1963) die Kreation spontaner Ordnung nennt, mit der besonderen Organisationsform dieser Systeme zusammenhängt, mit ihrer kreisläufigen Vernetzung. Als Beispiel können wir an Menschen denken, die sich, wenn sie aufeinandertreffen, gegenseitig wahrnehmen und auch wahrnehmen, dass sie sich jeweils wahrnehmen, dass sie – nonverbal wie verbal – aufeinander reagieren. Genau damit wird die typisch soziale Situation geschaffen, die Watzlawick und seine Kollegen (1967) mit dem zentralen Axiom der menschlichen Kommunikation auf den Punkt bringen: Wir können im Kontakt miteinander nicht nicht kommunizieren. Alles, was wir tun, kann als Mitteilung von Information(en) verstanden werden (vgl. auch Luhmann 1984). Kommunikation läuft an, ob wir das wollen oder nicht. Die Voraussetzung dafür ist die Kreislaufstruktur des Sozialen: dass wahrgenommen wird, dass und möglicherweise auch wie, d.h. mit welchen Reaktionen wahrgenommen wird, dass Wahrnehmen kreisläufig, zirkulär auf Wahrnehmen verweist.

Dieses vernetzte Wahrnehmen (ich nehme wahr, dass ich wahrgenommen werde, und dass auch dies wahrgenommen wird) bringt laufend Strukturen und Ordnungen hervor, die wir durch unsere sozialen Kontakte zwar schaffen, die wir jedoch hinsichtlich ihrer Ergebnisse nicht zielgerichtet planen können. Denken wir an eine sich spontan ergebende Sitzordnung, etwa in einem studentischen Seminarraum. Diese Ordnung entsteht spontan und kann mit jedem erneuten Hineintreten in den Seminarraum re-aktualisiert und damit verfestigt werden. Sollten sich aber die Ausgangsbedingungen dieser Ordnung ändern, indem beispielsweise Studierende hinzukommen oder wegbleiben, modifiziert sich die Ordnung, wiederum in einer Weise, die vorher nicht prognostiziert werden kann.

Nicht nur die Kybernetik von Foerster (1988) und die Systemtheorie von Luhmann (1984) beschreiben derartige Prozesse, erlauben die Nichttrivialität unserer bio-psycho-sozialen Welt zu sehen. Auch Hayek (1964) hat bereits in seiner Theorie komplexer Phänomene Mitte der 1960er Jahre skizziert, welche Eigenschaften komplexe Systeme zeigen und dass daher ein rationalistischer Konstruktivismus, der vorgibt, unsere Welt beliebig konstruieren und umkonstruieren zu können, eine gefährliche Illusion ist. Und daher sollten wir den Konstruktivismus niemals verstehen als Anschauung, die suggeriert, dass die Welt rechnerisch konstruierbar, planbar, steuerbar oder kontrollierbar ist. Mit dem Konstruktivismus, der systemtheoretisch begründet wird, können wir eher die Unsicherheit unserer Erkenntnisse und unseres Wissens reflektieren sowie die Gründe für diese Unsicherheit angeben und erklären (vgl. Luhmann 1990).

Literatur

Foerster, H. v. (1981): Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Watzlawick, P. (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München, 39-60.

Foerster, H. v. (1988): Aufbau und Abbau. In: Simon, F. B. (Hrsg.): Lebende Systeme: Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Heidelberg, 19-33.

Hayek, F. A. (1945): Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft. In: Vanberg, V. J. (Hrsg.): Hayek Lesebuch. Tübingen (2011), 143- 156.

Hayek, F. A. (1964): Die Theorie komplexer Phänomene In: Vanberg, V. J. (Hrsg.): Hayek Lesebuch. Tübingen (2011), 115-139.

Hayek, F. A. (1970): Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde. In: Vanberg, V. J. (Hrsg.): Hayek Lesebuch. Tübingen (2011), 209- 229.

Hayek, F. A. (1974): Die Anmaßung des Wissens In: Vanberg, V. J. (Hrsg.): Hayek Lesebuch. Tübingen (2011), 87-252

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.

Luhmann, N. (1990): Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität. In: Ders. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Opladen, 31-58.

Vogel, H.-C. (1991): Organisationen – Rationalistisches und Konstruktivistisches zum Planungsprozeß. In: Bardmann, Th. M.; Kersting, H. J.; Vogel, H.-C.; Woltmann, B.: Irritation als Plan. Konstruktivistische Einredungen. Aachen, S. 32-63.

Watzlawick, P., Beavin, J. H., Jackson, D. D. (1967): Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Bern (1969).

Autor: Heiko Kleve

Heiko Kleve

3 Kommentare zu „Hayeks Kritik am Konstruktivismus – oder: Die Rettung des Konstruktivismus vor dem Konstruktivismus“

  1. Gegen die mutmaßliche Willkürlichkeit von Konstruktionsprozessen musste ich unweigerlich als Bateson denken: „Wenn eine Abfolge von Ereignissen eine Zufallskomponente mit einem selektiven Prozeß verbindet, so daß sich nur gewissen Ergebnisse des Zufälligen durchhalten können, dann soll diese Abfolge ’stochastisch‘ sein.“, aus Geist und Natur – Glossar.

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    1. das klingt nach erfolgreichen „börsenkursvoraussagern“: die, die den survivorship bias überleben, werden zu gurus. dabei hat „die statistik“ einfach nur dazu geführt, dass die „dürren äste“ des entscheidungsbaums abgeschnitten wurden und nur wenige, in der rückschau immer richtig liegende, übrig gelassen hat…

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