Dieser Text aus dem Jahre 2003 entstand nach einer intensiven Beschäftigung mit dem ersten Band der Sphären-Trilogie von Peter Sloterdijk.
„Es möge sich fernhalten, wer unwillig ist, die Übertragung zu loben und die Einsamkeit zu widerlegen.“ Peter Sloterdijk
Ich gebe es ohne Umschweife zu: Mich reizt das Deviante, das von der Norm Abweichende.[1] Daher ist es auch kein Zufall, dass mich die Philosophie von Peter Sloterdijk interessiert. Denn Sloterdijk gilt im akademischen Mainstream der Geisteswissenschaften als Abweichler, als einer, der nicht jenen Ton trifft, welchen man gemeinhin hören will. Sloterdijk ist einer, der dazwischen ruft, der die wissenschaftlich und politisch korrekt sein wollenden Mitglieder welcher Diskursgemeinschaften auch immer zum Aufschrecken, ja zum Aufschreien bringt. Kurz: Sloterdijk irritiert. Und das macht er im besten systemisch-konstruktivistischen Sinne. Er regt zum Nachsinnen über Wirklichkeitskonstruktionen an, provoziert dazu, sich neue Realitätsbeschreibungen zu kreieren. Aber dabei kann er freilich nur für das, was er sagt und schreibt, Verantwortung übernehmen und gewiss nicht für jenes, welches seine aufgeschreckten Kritiker in seine Worte hinein interpretieren.
Insbesondere die sogenannten kritischen Theoretiker der Habermas-Schule nehmen Anstoß an Sloterdijks jüngste Thesen hinsichtlich der philosophie-historischen Kontextuierung der Gentechnologie,[2] sie meinen der Philosoph von der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe äußere sich „faschistoid“.[3] Angesichts dieser Vorwürfe könnten wir Silvio Vietta zustimmen, der ausführt, dass geradezu reflexartig „die Faschismuskeule geschwungen“ wird, „wenn etwas Unheimliches naht, das die Kritische Theorie nicht mehr verorten kann“.[4] Und dieses Unheimliche ist lediglich eine Frage sowie der vorsichtige Versuch, sich eine Antwort zu erarbeiten – und zwar eine Antwort auf die Frage, in welchem geistesgeschichtlichen Kontext die aktuellen Vorstöße in Richtung gentechnischer Synthese des Menschen zu sehen sind und welche zukünftigen Wirkungen eine solche Synthese, wenn sie denn tatsächlich möglich ist,[5] für die Menschheitsgeschichte haben könnte. Sloterdijk fragt also insbesondere, „ob auf lange Sicht so etwas wie eine explizite Merkmalsplanung auf Gattungsebene überhaupt möglich sei und ob die optionale Geburt (mit ihrer Kehrseite: der pränatalen Selektion) gattungsweit zu einem neuen Habitus in Fortpflanzungsfragen werden könnte“.[6]
Diese Frage verortet er in einem historischen Kontext, in dem man so sensible Geister wie Platon, Nietzsche und Heidegger findet und der sich ausdehnt bis hinein in die Gegenwart der heutigen Diskursräume: Es ging und geht um die theoretische und ethische Beschäftigung mit den Möglichkeiten der menschlichen Selbstformung, um Erziehung und Manipulation, aber auch um menschliche Verhaustierung, um Domestikation des Menschen. Diese Domestikation kann sowohl psycho-sozial (das ist die klassische Form, z.B. durch Erziehung) als auch (und hier scheint die gentechnische Revolution auf) biologisch ansetzen. Bei der Beschäftigung mit diesem Themenfeld blinken uns also die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von – wie Sloterdijk formuliert – Zähmung (z.B. durch Pädagogik) und Züchtung (durch gentechnologische Synthese) entgegen. „[…] der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken – dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlosung widmen“.[7]
Wenn von „Verharmlosung“ gesprochen wird, dann liegt der Schluss nahe, dass das Problem eben nicht harmlos, sondern schlimmstenfalls gefährlich ist. Ungeachtet der Unterscheidung von harmlos/gefährlich lässt sich jedenfalls mit Gewissheit sagen: Die Menschen sind seit sie begannen, als bewusste Wesen ihre eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen, bemüht, sich selbst und ihre Umwelt verändernd zu beeinflussen, sie sind, seit sie als Menschen sind, immer schon Technik-Erfinder, -Gebraucher und -Vervollkommener: „Wenn ‚es’ den Menschen gibt, dann weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hat hervorkommen lassen. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende oder der Plan, auf dem es Menschen geben kann.“[8] Die Gentechnik ist als eine auf „Züchtung“ ausgerichtete Anthropotechnik – neben solchen „zähmenden“, das Unbehagen in der Kultur[9] versinnbildlichenden Anthropotechniken wie Erziehung oder auch Sozialarbeit – die jüngste Stufe dieser nicht selten problematischen und sich selbst überschätzenden Bemühungen.
Warum sich die „zähmenden“ Anthropotechniken wie Erziehung und Sozialarbeit überschätzen, haben wir in den letzten Jahren aus systemischer Sicht häufig gehört,[10] wieso das gleiche für die Gentechnik zutrifft, die – um bei diesen Worten zu bleiben – Züchtung statt Zähmung empfiehlt, kann ich hier nur andeuten. Diese gefährliche Selbstüberschätzung wird aber bereits erahnbar, wenn man hört, dass in gentechnologischen Laboratorien darüber schwadroniert wird, ob der Staat das Geld, das er für Arme, Kranke, Obdachlose, also für Klientel der Sozialarbeit ausgibt, eher der gentechnologischen Forschung und Praxis bereit stellen sollte. Denn – so wird rhetorisch gefragt – sind denn Armut, Krankheit, Obdachlosigkeit nicht Wirkungen genetisch bedingter Abweichungen im Menschenmaterial, die es zu korrigieren gilt?
Wer so fragt, der fordert tatsächlich faschistische Antworten heraus. Ein solches Fragen liegt Sloterdijk allerdings fern. Er sensibilisiert vielmehr dafür, sich der Herausforderung der neuen Anthropotechiken mit „Weisheit“ zu stellen. Eine solche Weisheit normalisiert und entdramatisiert zunächst das Problem, indem sie deutlich macht, dass „den Menschen nichts Fremdes [geschieht], wenn sie sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern“; sie tun dies nämlich bereits seit Urzeiten, es gehört unmittelbar zum Menschsein dazu, technische Versuche der Selbstvervollkommnung zu unternehmen. Zugleich jedoch warnt eine solche Weisheit vor einer Dummheit, die dazu ermutigt, reflexiv voraussetzungslos ans Werk zu gehen und dadurch nicht zu beachten, dass „diese Eingriffe und Hilfen […] auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale Natur des Menschen [geschehen müssen], daß sie als authentische, kluge und gewinnbringende Koproduktionen mit dem evolutionären Potential wirksam werden können“.[11]
Wer die Gentechnik „authentisch, klug und gewinnbringend“ einsetzen will, der darf vor allem nicht blind sein für das, was wir den sozialen Raum, die Mikro- und Makro-Sphären, die Blasen und Globen – um bereits mit Sloterdijk zu sprechen –[12] nennen können, die in zweifacher Weise das einhöhlen, was die Gentechnologie meint, enträtselt zu haben, nämlich den Code zur Produktion von Menschen.
Erstens wird dieser Code, diese sogenannte Schrift interpretatorisch eingehöhlt. Denn wenn das Genom tatsächlich, wie die Biologen nicht müde werden zu formulieren, in Form eines Codes, einer Schrift vorliegt, dann ist es hinsichtlich des Verständnisses, der Auslegung, der Entzifferung, kurz: der Hermeneutik wie jedes gelesene Wort, wie jeder Text abhängig von den Rezipienten, also abhängig von seiner biologischen Leserschaft, dann steht es gerade nicht auf dem Präsentierteller des Objektiven, kann auf es nicht mit dem Finger gezeigt werden; vielmehr muss man soziale Techniken der Interpretation einsetzen, um es zu entziffern, um es zu lesen. Und Lesen als psychisches und – wenn dessen Ergebnisse kommuniziert werden – als soziales Ereignis produziert Kontingenz, erzeugt einen Reichtum an Möglichkeiten der Sinninterpretation, so dass wir hier alles andere als Eindeutigkeit (z.B. hinsichtlich der Merkmalserkennung, geschweige denn -planung) erkennen können. Wie Peter Fuchs in einem ketzerischen Essay gezeigt hat,[13] blenden die Biologen in „nahezu bodenloser Ignoranz“ aus, „dass das am Lochstreifen der DNS kondensierende Material (der Körper) nichts ist, was irgendeine Bedeutung hätte (außer vielleicht verzehrbares Fleisch zu sein), wenn nicht eine andere, weitaus bedeutendere Macht auf dieses herausgetickerte Material zugriffe: die Sphäre des Sozialen“.
Zweitens wird die genetische Schrift in einer Weise sozial-systemisch eingehöhlt, die dazu führt, dass sie niemals direkt sogenannte Merkmale prägen kann. Es sind nämlich die Grenzen der sozialen Systeme zu ihrer biologischen Umwelt, zu der auch die Körper mit ihrer autopoietischen Determination gehören, an denen sich das Genom bricht, an denen es mit seiner vermeintlich determinierenden Durchschlagkraft zerschellt. Hinsichtlich des Sozialen schreibt es „nichts auf und nichts vor“,[14] wie Fuchs feststellt. „Niemand wird leugnen wollen, dass wir dem Genom unseren Mund, die Stimmritzen, die Geschmackspapillen verdanken, aber was der Mund tut, was er isst, was er nicht isst, wen er küsst (und wie er küsst), bei welchen Gelegenheiten aus ihm erbrochen wird, wann aus ihm gesungen wird (und ob Fangesänge oder Arien), welche Sprache mit ihm gesprochen wird (und was in dieser Sprache möglich oder nicht möglich ist), wird im Zuge der Sozialisation reguliert. Dass unser Körper sexuell reagieren kann, ist zweifelsfrei genetisch bedingt, aber bei welchen Gelegenheiten der sexuelle Motor offen anspringen kann oder nur leise Summen darf, welche Reize ihn anwerfen, wie seine polymorphe Perversität eingeschränkt oder ausgearbeitet wird, wie der Kontakt zwischen Liebenden angebahnt werden darf und wie nicht, wann Sexualität peinlich wirkt, wann locker, selbst zwischen wem sie zugelassen ist und wem nicht, dies alles entscheidet sich im Zuge dessen, was die sozialen Systeme (synchron und diachron weltweit verschieden) anbieten“.[15]
Aus dieser soziologischen Perspektive können wir also Sloterdijks Frage, ob biologische Merkmalsplanung überhaupt möglich sei, beantworten – und dies vielleicht anders als er selbst dies tun würde. Denn wir behaupten, dass eine solche Merkmalsplanung gar nicht oder nur beschränkt möglich ist, weil Merkmale immer durch den Kanal des Sozialen fließen, in den Rechner des Sozialsystemischen eingelesen werden müssen, erst im sozialen Verkehr relevant und daher sozial (also dialogisch interpretierend, sinnstiftend, sozial-systemisch kontextuell) und nicht biologisch geprägt werden. Bei der Beantwortung dieser Frage bleiben wir also streng systemtheoretisch und anerkennen keine Ausnahmen beim strukturell gekoppelten, sich gegenseitig zwar bedingenden, aber nicht determinierenden Wechselverhältnis in der Ko-Produktion von biologischen, psychischen und sozialen Systemen.[16]
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Welche Sphäre das Soziale nun bildet, das unsere genetisch geerbten Merkmale interpretiert und in Schablonen des Verstehens und Verhaltens einprägt, indem es ihnen in sozialer Kommunikation eine sinnhafte Bedeutung verleiht, können wir beispielsweise bei komplexen Sozialentheorien wie der Luhmannschen Systemtheorie in präzisen Worten erfahren.[17] Ich schlage jedoch vor, dass wir unseren Blick von den technisch kühl funktionierenden soziologischen Navigationsinstrumenten der Systemtheorie einmal abwenden, den Autopiloten einschalten, der den Blindflug über den Wolken der Gesellschaft nun für einige Zeit für uns überwacht und einen Blick in Richtung Sonne werfen. Denn dort werden wir ein noch schwer kategoriesierbares Gebilde sehen können, das aus unbekanntem Material besteht, sich mit einem unbekannten Antrieb fortbewegt und dabei so schön und elegant wirkt, dass es uns den Atmen verschlägt. Dieses Gebilde, das wie die Systemtheorie die sozialen Sphären in angemessener Höhe abfliegt, aber hin und wieder die Wolkendecke durchstößt und manchmal der Sonne gefährlich nahe kommt, ist die Sphärentheorie von Sloterdijk. Nehmen wir uns ein wenig Raum, um diese Theorie zu betrachten – gewiss: vom sicheren Ort der Systemtheorie aus, denn es könnte gefährlich, ja sehr heiß werden, wenn wir uns zu dicht an die Sphärologie heran wagen.
Sloterdijk interessiert sich – zumindest im Band Sphären I, den er auch mit Blasen und Mikropsphärologie untertitelt – für die sozialen Nahräume, die uns mit stark seelisch, emotional und kognitiv integrierenden Momenten aus der existenziellen Entfremdungswelt der nur noch kommunikativ und kühl inkludierenden Systeme geradezu heilsam heraus reißen (können). Es geht in der Sphärologie nicht um Inklusion, sondern um Integration,[18] um die Frage, „wie menschliche Wesen aneinander und an interaktiv errichteten surrealen oder symbolischen oder imaginären Räumen teilhaben“.[19] Dabei sieht sich der Sphärentheoretiker selbst in eine Zeit gestellt, in der man seine Luhmann-Lektionen gelernt haben sollte: „Nach Luhmann denken – das bedeutet für mich: die altehrwürdigen Begriffe der Liebe, der Seele, des Geistes, ein wenig aktueller gesprochen: der Teilhabe am Anderen und der Existenz in gemeinsamen Animations- und Motivierungsräumen, derart neu zu fassen, daß in der Darstellung selbst die Erschwerungen fühlbar werden, die mit dem aktuellen ‚Weltzustand’ […] gegeben sind.“[20]
Diese Erschwerungen sind zunächst existenzieller Art, sie sind Erschwerungen, die die Gefühlslage des „sozial ortlosen“ Menschen in der Moderne in einen permanenten Leidenszustand versetzen, in dem Glück „immer nur als ein verlorenes zu denken [ist], nur als schöne Fremde.“[21] Diese schöne Fremde, dieses Glück ist in der Regel für uns Heutige, für die alle möglichen („zähmenden“) Anthropotechniken (z.B. Psychotherapie) zum notwendigen Lebenselixier geworden sind, „nicht mehr als eine Ahnung, auf die wir mit Tränen in den Augen zugehen, ohne anzukommen.“[22] Sloterdijk scheint jedoch angekommen zu sein, er hat offenbar inzwischen die Seiten gewechselt, schreibt mittlerweile aus dem beseelten Innenraum einer intimen Sphäre des Glücks, einer zerbrechlichen Blase, in welche er (wieder) aus der existenziellen Erfahrungswelt der Einsamkeit, also von außen eindringen konnte: „Ich spreche jetzt eine Sprache der wiedergewonnen Animation. Alles was ich sage, beruht auf dieser Erfahrung der wiedergewonnen Beseeltheit zu mehreren. […] Ich weiß, was Oberflächlichkeit ist, und ich weiß, was dunkle Existenzialität ist und was das Pathos der Vereinsamung bedeutet, aber ich spreche jetzt ganz bewußt aus der anderen Perspektive, das heißt nach dem Wiedereintritt in diese sich selber reparierende Sphäre der zu mehreren geteilten Beseeltheit“.[23]
Vor dem Wiedereintritt in diese geteilte Beseeltheit, in diesen intimen Raum des Wir, dem er seine Sphärologie widmet, sah er die Welt noch mit Nietzsche, nämlich als ein Tor zu tausend Wüsten, leer und kalt. Jetzt auf der anderen Seite dieses Tors angekommen, auf der Seite der Sonnen durchfluteten grünen Oasen, voll und warm, kann Sloterdijk die Frage nach der Möglichkeit „der Wiederherstellung der Teilhabe“ beantworten. Jetzt erst, nachdem er – wie jeder „sphärengestörte Mensch“, der draußen war, der durch „diese Entfremdungswüste, durch diese Kältewüste und durch diese Nichtteilhabewüste“[24] gegangen ist –, ja jetzt erst, nachdem er das Leiden der Menschen an der Welt erfahren, aber – wie nur wenige – überwinden konnte, unternimmt er offenbar den Versuch, die beseelten Räume, die intimen Sphären und die Zugangsmöglichkeiten zu ihnen zu beschreiben.
Dabei verrückt er viele Voraussetzungen und schweigend akzeptierte Regeln unseres alteuropäischen Denkens, z.B. die Startposition der Philosophie. Denn Philosophie wird bei ihm zum Maßstab für die Möglichkeit, die Einsamkeit, nämlich die Kälte der Eins zu verlassen. Philosophie fängt für Sloterdijk daher nicht mehr mit der Eins, dem Einen, etwa dem denkenden, sich selbst reflektierenden Subjekt, sondern mit der Zwei an, mit dem – systemtheoretisch gesprochen: Subjekt zweiter Ordnung, das erst dann subjektive Züge gewinnt, erst dann zur selbstreferentiellen Nicht-Trivialität wird, wenn es in einen Verweisungskontext des gegenseitigen, mindestens von zwei sich unterscheidenden Beobachtern markierten und damit sinngefüllten Kontext eintritt. Kurz: Sloterdijk verschiebt den Startplatz der Philosophie von der Eins zur Zwei: „Ich lasse die Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen.“[25] Sphäre ist für ihn in dieser philosophischen Schreibweise der Dyade, der Zweiheit eine sich selbst umkreisende Relation zwischen (mindestens zwei) Elementen: „Was ich Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben“.[26]
In Sphären I wird eine mit der soziologischen Systemtheorie verwandte philosophische Sozialtheorie entworfen, die sich zwar nicht mit kühlen Inklusions-Systemen, sondern mit den warmen Integrationsräumen beschäftigt, die aber genauso wie das systemische Denken deutlich machen will, dass die Welt aus Relationen besteht, deren Knoten- bzw. Umlaufpunkte, deren Enden zwar Substanzen, Dinge und Subjekte hervorscheinen lassen. Nicht aber diese „festen“ Entitäten sind es, die die Relationen produzieren, sondern umgekehrt: die Beziehungen, die Kommunikationen erschaffen die Personen. Person kann man nur sein in Relation zu anderen Personen. „Noch einmal fragen wir: Wo ist das Individuum? Und geben die sphärologische Antwort: Es ist zunächst und zumeist Teil eines Paares“.[27] Und Sloterdijk fährt fort wie ein Paar- und Familientherapeut, der anzugeben versucht, woraufhin er seinen Beobachtungs- und Interventionsfokus justiert, nämlich „auf die unsichtbare oder virtuelle Paarstruktur“.[28] Es reiche nicht aus, das Paar zu betrachten, sondern wofür sich die Sphärologie interessiert ist das Dritte zwischen den das Paar bildenden Partnern, das etwas Emergentes bildet, etwas, das weder auf den einen noch auf den anderen Partner zurückgeführt werden kann.
Wir können hier sehr deutlich sehen, dass das, was das systemische Projekt seit langem versucht, nun auch in die Philosophie von Sloterdijk hinein schwappt, nämlich der Versuch, das Substanzdenken zugunsten eines Denkens von Beziehungen zu überwinden: „Das philosophische Engagement von Sphären I besteht in dem Vorsatz, die in der philosophischen Tradition stiefmütterlich behandelte Kategorie der Relation, der Beziehung, des Schwebens in einem Ineinander-Miteinander, des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Größe zu erheben und die sogenannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Schwebens zu behandeln“.[29]
Und diese „Geschichte des Schwebens“ ist die Geschichte von Blasen. Blasen sind das Sinnbild für das Zerbrechlichste, was es in der „Zwischenwelt“ der Menschen, in den Sphären gibt, für das, was wir gemeinhin intime menschliche Beziehungen, was wir Liebe (nicht nur erotische, sondern auch freundschaftliche oder Elternliebe) nennen und so bestaunen sollten wie ein Kind vorsichtig in die Luft gehauchte und schwebende Seifenblasen bestaunt. Sicher, Blasen werden früher oder später platzen. Die Hoffnung des Kindes auf ewiges Fliegen der Blasen wird enttäuscht. So folgt der momenthaften Erfahrung des Glücks (z.B. beim Zusehen, wie die Blasen schweben) zwangsläufig die Enttäuschung der Hoffnung, ja das Unglück – oder noch schlimmer: „Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist“.[30] Doch der ist bemitleidenswert, der hier im Unglück verweilt, der die Melancholie länger als es nötig ist, um den psycho-hygienisch wichtigen Trauerprozess durchzuleben und abzuschließen, als Gast zu sich bittet. Zumeist „kehrt die Spielfreunde mit ihrem bewährtem grausamen Vorwärts wieder. Was sind geplatzte Hoffnungen anderes als Anlässe zu neuen Versuchen?“[31]
Diese neuen Versuche werden wieder mit Hoffnungen einhergehen, mit Hoffnungen, die wir aus den tiefen Schichten unseres Wunschspeichers entnehmen, der – wie wir noch sehen werden – von der Übertragung lebt. Wir wünschen, so spricht nicht nur Sloterdijk, sondern das Leben selbst, nichts sehnlicher als in intimen Räumen zu leben, zu lieben. Und jedes Lieben, wenn es denn das Glück hat, die psycho-biologische, die kognitiv-emotionale Sphäre in Richtung Sozialität zu überschreiten, führt zu einer sozialen Sphärenbildung, zu einer „Innenraumschöpfung“.[32] Diese Innenraumschöpfung, und dies ist für mich eine heilsame, für manche sicher eher eine überraschende These, lebt von dem (psychoanalytisch geprägten) Phänomen der Übertragung.
Wenn wir unsere sphärische Urerfahrung in die Gegenwart hinein, ja über-tragen können, dann sind wir heil, sind wir ganz, nämlich so, dass wir lieben können ohne zu leiden, dass wir die anderen nicht brauchen als welche, die unsere seelischen Löcher stopfen. Diese Löcher sind nämlich Erinnerungslücken bezüglich der sphärischen Urerfahrung der gelebten Zweiheit, die bereits im Mutterleib als „intra-uterine Kohabitation mit der Plazenta“[33] bestand: „Alle Geburten sind Zwillingsgeburten; niemand kommt allein zur Welt. Auf jeden Ankömmling [auf jeden Orpheus; H.K.], der zum Licht hinaufsteigt, folgt eine Eurydike, anonym, stumm und zum Anschauen nicht geschaffen. Was übrigbleiben wird, das Individuum, das nicht noch einmal Teilbare, ist schon das Ergebnis eines Trennungsschnitts, der die vorzeitlich Unzertrennlichen in Kind und Rest aufteilt. Eurydike geht unter, doch ihr Verschwinden ist nur scheinbar ein spurloses, denn außer dem Nabel – jenem im Fleisch festgehaltenem Denkmal der aufgelösten Verbindung mit ihr – hinterläßt sie eine sphärische Leerstelle im Umraum des Kindes, ihres Protégés und Zwillings“.[34] Diese Leerstelle muss immer und immer wieder neu besetzt werden; zuerst mit der Mutter, deren Beziehungsmöglichkeiten dann erneut die Übertragungsvorlage bilden für weitere Ein- und Hineinschnitte in die sphärischen Beziehungswelten.
Die Menschen sind „bleibend auf anonyme Begleitung hin angelegt“.[35] Die Übertragung dieser Erinnerung auf gegenwärtige Objekte und Räume führt zur Liebe. Aber wehe diese Übertragung gelingt nicht, dann führt die für das Misslingen verantwortliche „Verwerfung der Erinnerung an das Proto-Dual […] zu schlechten Ersatzbildungen. Man verlernt das Finden, wenn das Suchbild zerstört ist“.[36]
Daher ist die Sphären, ist die intime Innenräume eröffnende Liebe hinsichtlich des Proto-Duals der Zweiheit mit der Plazenta die Schablone für Liebe schlechthin, eben Übertragungsliebe. Sie kann andere Objekte und Räume, sprich: Sphären mit Liebe zwischen Menschen beseelen, weil sie immer schon geliebt hat und nach wie vor liebt. Sloterdijk rehabilitiert damit das psychoanalytische Beziehungsprinzip, das uns in der Regel als Pathologie aufgetischt wird. Menschen die „gesund“ übertragen, scheinen solche zu sein, „die gegen maligne Beziehungen am meisten immun sind“, Menschen also, „die mit ihrem okkulten Zwilling in einer diskreten Beziehung leben – sie haben den berühmten Schutzengel, zeitgemäßer gesprochen, sie passen gut auf sich selber auf“.[37]
Von dieser Übertragung lebt nicht nur die Liebe, sondern die Kreativität in der Welt: „Leider hat man sich im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs mit der Auffassung abgefunden, die Übertragungsliebe als einen neurotischen Mechanismus zu charakterisieren, der daran schuld ist, daß echte Leidenschaften meistens an falscher Stelle empfunden werden. Nichts hat dem philosophischen Denken so geschadet wie diese klägliche Motivreduktion, die sich zu Recht und zu Unrecht auf psychoanalytische Muster berief.“[38] Die Übertragung, die ein Ergebnis der dyadischen Urszene, der Beziehung des Kindes zur nährenden Plazenta und damit indirekt zu seiner Mutter ist, erscheint in der Sloterdijkschen Lesart als „die Formquelle von schöpferischen Vorgängen […], die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln“.[39]
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Um zum Ausgangsthema zurückzukehren, wollen wir schließlich fragen, was passieren würde, wenn man die beschriebene dyadische Ursituation durch die Realisierung von maschinenähnlicher Menschenproduktion – etwa im Sinne Aldous Huxleys Brave New World[40] (was sicherlich immer noch Utopie ist) – ihrer natürlichen Dynamik berauben oder gänzlich beseitigen würde, wenn keine biologisch-lebendige Plazenta/Kind- bzw. Mutter/Kind-Beziehung mehr möglich werden kann, weil Menschen in synthetischen Tröpfen, in kühlen Räumen (z.B. in Reagenzgläsern und Flaschen), in Un-Sphären gezüchtet werden. Sloterdijk beantwortet diese Frage nicht. Aber wir können spekulieren: Solche Wesen – ob man sie Menschen nennen kann, mag ich nicht beurteilen – würden vermutlich sehr enge emotionale und kognitive Grenzen haben, denn ihnen fehlt das Übertragungsvermögen der frühsten Liebeserfahrungen auf alles spätere emotional bis zur Liebe Berührende und Sphären Schaffende. Denn – so Sloterdijk, und zwar frei nach Ludwig Wittgenstein:[41]„Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt.“[42]
[1]Dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass ich Sozialarbeiter geworden bin. Denn die Sozialarbeit beschäftigt sich in der klassischen Sichtweise mit denen, die von der Norm abweichen, mit den Devianten. Obwohl wir aus postmoderner Perspektive inzwischen wohl sagen können, Devianz ist normal, Abweichung zur Konformität geworden.
[2]Siehe zu diesen Thesen, die auch unter dem Titel Elmauer Rede bekannt geworden sind, Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.
[3]Siehe zu solchen und ähnlichen Vorwürfen z.B. Thomas Assheuer, Zarathustra-Projekt, in: Die Zeit, 2. September 1999.
[4]Silvio Vietta, Sloterdijk, Heidegger und die Habermas-Schule, in: literaturkritik.de Nr. 10 – Oktober 1999, http://www.literaturkritik.de/txt/1999-10-23.html [16.10.2001], S. 2.
[5]Diese Möglichkeit werde ich weiter unter zumindest bezüglich der Chance einer eindeutigen Merkmalsplanung mittels genetischer Manipulation aus systemtheoretischer Sicht radikal infrage stellen.
[6]Peter Sloterdijk, Nachbemerkung, in: ders., Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus,Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 59f.
[7]Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, a.a.O., S. 41f.
[8]Peter Sloterdijk, Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, http://www.goethe.de/uk/bos/deutsch/programm/depslot2.htm [17.10.2001], S. 5.
[9]Vgl. hierzu Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke. Band XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt/M.: Fischer, S. 419-506.
[10]Ich denke diesbezüglich beispielsweise an die Unwahrscheinlichkeit der direkten instruktiven Interaktion von Erziehern, Therapeuten und Sozialarbeitern bezüglich ihrer „Schützlinge“. Vgl. dazu beispielsweise Heinz J. Kersting, Intervention: Die Störung unbrauchbarer Wirklichkeiten, in: Bardmann, Theodor M. u.a. (Hrsg.): Irritation als Plan: Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting 1991, S. 108-133.
[11]Peter Sloterdijk, Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, a.a.O.
[12]Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen. Mikrosphärologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998; ders., Sphären II. Globen. Makrosphärologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.
[13]Peter Fuchs, Biologisch ausbuchstabiert. Wenn Metaphern Debatten beherrschen: Bemerkungen zu einer Suppe, die sich bei näherem Hinsehen als heißgerührte Kaltschale entlarven lässt – Zur Entzifferung des Genoms und anderen Problemen mit der Sprache, in: die tageszeitung, 11.7.2000, S. 14.
[14]Peter Fuchs, a.a.O.
[15]Ebd.
[16]Siehe ausführlich zu den interdisziplinären Voraussetzungen eines solchen systemtheoretischen Denkens Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984.
[17]Siehe wiederum Niklas Luhmann, a.a.O.
[18]Siehe zu dieser Unterscheidung Armin Nassehi, Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration. Die Theorie funktionaler Differenzierung und die Desintegrationsthese, in: Heitmeyer, W. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 113-148 oder auch Heiko Kleve, Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion. Eine Verhältnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht, in: Sozialmagazin, Heft 12/2000: S. 38-46.
[19]Peter Sloterdijk, Der Anwalt des Teufels. Niklas Luhmann und der Egoismus der Systeme, in: Soziale Systeme 1/2000, S. 38.
[20]Ebd.
[21]Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 23.
[22]Ebd.
[23]Peter Sloterdijk, Die Sphären des Peter Sloterdijk. 86. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 22.06.1999. Lesung: Peter Sloterdijk, http://www.humboldtgesellschaft.de/inhalt.php?name=sphaeren [17.10.2001].
[24]Ebd.
[25]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 147.
[26]Ebd.
[27]Ebd., S. 146.
[28]Ebd.
[29]Ebd., S. 139.
[30]Michel Houellebecq, Elementarteilchen, Köln: DuMont 1999, S. 278.
[31]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 18.
[32]Ebd., S. 14.
[33]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, a.a.O., S. 168.
[34]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 419.
[35]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, a.a.O., S. 168.
[36]Ebd.
[37]Ebd.
[38]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 14.
[39]Ebd.
[40]Aldous Huxley, Brave New World, London: Chatto & Windus 1932.
[41]Ludwig Wittgenstein äußerst im Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (5.6).
[42]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 14.