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Lob der Übertragung. Zwischenbericht einer Sloterdijk-Lektüre

Dieser Text aus dem Jahre 2003 entstand nach einer intensiven Beschäftigung mit dem ersten Band der Sphären-Trilogie von Peter Sloterdijk.

„Es möge sich fernhalten, wer unwillig ist, die Übertragung zu loben und die Einsamkeit zu widerlegen.“ Peter Sloterdijk

Ich gebe es ohne Umschweife zu: Mich reizt das Deviante, das von der Norm Abweichende.[1] Daher ist es auch kein Zufall, dass mich die Philosophie von Peter Sloterdijk interessiert. Denn Sloterdijk gilt im akademischen Mainstream der Geisteswissenschaften als Abweichler, als einer, der nicht jenen Ton trifft, welchen man gemeinhin hören will. Sloterdijk ist einer, der dazwischen ruft, der die wissenschaftlich und politisch korrekt sein wollenden Mitglieder welcher Diskursgemeinschaften auch immer zum Aufschrecken, ja zum Aufschreien bringt. Kurz: Sloterdijk irritiert. Und das macht er im besten systemisch-konstruktivistischen Sinne. Er regt zum Nachsinnen über Wirklichkeitskonstruktionen an, provoziert dazu, sich neue Realitätsbeschreibungen zu kreieren. Aber dabei kann er freilich nur für das, was er sagt und schreibt, Verantwortung übernehmen und gewiss nicht für jenes, welches seine aufgeschreckten Kritiker in seine Worte hinein interpretieren.

Insbesondere die sogenannten kritischen Theoretiker der Habermas-Schule nehmen Anstoß an Sloterdijks jüngste Thesen hinsichtlich der philosophie-historischen Kontextuierung der Gentechnologie,[2] sie meinen der Philosoph von der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe äußere sich „faschistoid“.[3] Angesichts dieser Vorwürfe könnten wir Silvio Vietta zustimmen, der ausführt, dass geradezu reflexartig „die Faschismuskeule geschwungen“ wird, „wenn etwas Unheimliches naht, das die Kritische Theorie nicht mehr verorten kann“.[4] Und dieses Unheimliche ist lediglich eine Frage sowie der vorsichtige Versuch, sich eine Antwort zu erarbeiten – und zwar eine Antwort auf die Frage, in welchem geistesgeschichtlichen Kontext die aktuellen Vorstöße in Richtung gentechnischer Synthese des Menschen zu sehen sind und welche zukünftigen Wirkungen eine solche Synthese, wenn sie denn tatsächlich möglich ist,[5] für die Menschheitsgeschichte haben könnte. Sloterdijk fragt also insbesondere, „ob auf lange Sicht so etwas wie eine explizite Merkmalsplanung auf Gattungsebene überhaupt möglich sei und ob die optionale Geburt (mit ihrer Kehrseite: der pränatalen Selektion) gattungsweit zu einem neuen Habitus in Fortpflanzungsfragen werden könnte“.[6]

Diese Frage verortet er in einem historischen Kontext, in dem man so sensible Geister wie Platon, Nietzsche und Heidegger findet und der sich ausdehnt bis hinein in die Gegenwart der heutigen Diskursräume: Es ging und geht um die theoretische und ethische Beschäftigung mit den Möglichkeiten der menschlichen Selbstformung, um Erziehung und Manipulation, aber auch um menschliche Verhaustierung, um Domestikation des Menschen. Diese Domestikation kann sowohl psycho-sozial (das ist die klassische Form, z.B. durch Erziehung) als auch (und hier scheint die gentechnische Revolution auf) biologisch ansetzen. Bei der Beschäftigung mit diesem Themenfeld blinken uns also die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von – wie Sloterdijk formuliert – Zähmung (z.B. durch Pädagogik) und Züchtung (durch gentechnologische Synthese) entgegen. „[…] der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken – dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlosung widmen“.[7]

Wenn von „Verharmlosung“ gesprochen wird, dann liegt der Schluss nahe, dass das Problem eben nicht harmlos, sondern schlimmstenfalls gefährlich ist. Ungeachtet der Unterscheidung von harmlos/gefährlich lässt sich jedenfalls mit Gewissheit sagen: Die Menschen sind seit sie begannen, als bewusste Wesen ihre eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen, bemüht, sich selbst und ihre Umwelt verändernd zu beeinflussen, sie sind, seit sie als Menschen sind, immer schon Technik-Erfinder, -Gebraucher und -Vervollkommener: „Wenn ‚es’ den Menschen gibt, dann weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hat hervorkommen lassen. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende oder der Plan, auf dem es Menschen geben kann.“[8] Die Gentechnik ist als eine auf „Züchtung“ ausgerichtete Anthropotechnik – neben solchen „zähmenden“, das Unbehagen in der Kultur[9] versinnbildlichenden Anthropotechniken wie Erziehung oder auch Sozialarbeit – die jüngste Stufe dieser nicht selten problematischen und sich selbst überschätzenden Bemühungen.

Warum sich die „zähmenden“ Anthropotechniken wie Erziehung und Sozialarbeit überschätzen, haben wir in den letzten Jahren aus systemischer Sicht häufig gehört,[10] wieso das gleiche für die Gentechnik zutrifft, die – um bei diesen Worten zu bleiben – Züchtung statt Zähmung empfiehlt, kann ich hier nur andeuten. Diese gefährliche Selbstüberschätzung wird aber bereits erahnbar, wenn man hört, dass in gentechnologischen Laboratorien darüber schwadroniert wird, ob der Staat das Geld, das er für Arme, Kranke, Obdachlose, also für Klientel der Sozialarbeit ausgibt, eher der gentechnologischen Forschung und Praxis bereit stellen sollte. Denn – so wird rhetorisch gefragt – sind denn Armut, Krankheit, Obdachlosigkeit nicht Wirkungen genetisch bedingter Abweichungen im Menschenmaterial, die es zu korrigieren gilt? 

Wer so fragt, der fordert tatsächlich faschistische Antworten heraus. Ein solches Fragen liegt Sloterdijk allerdings fern. Er sensibilisiert vielmehr dafür, sich der Herausforderung der neuen Anthropotechiken mit „Weisheit“ zu stellen. Eine solche Weisheit normalisiert und entdramatisiert zunächst das Problem, indem sie deutlich macht, dass „den Menschen nichts Fremdes [geschieht], wenn sie sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern“; sie tun dies nämlich bereits seit Urzeiten, es gehört unmittelbar zum Menschsein dazu, technische Versuche der Selbstvervollkommnung zu unternehmen. Zugleich jedoch warnt eine solche Weisheit vor einer Dummheit, die dazu ermutigt, reflexiv voraussetzungslos ans Werk zu gehen und dadurch nicht zu beachten, dass „diese Eingriffe und Hilfen […] auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale Natur des Menschen [geschehen müssen], daß sie als authentische, kluge und gewinnbringende Koproduktionen mit dem evolutionären Potential wirksam werden können“.[11]

Wer die Gentechnik „authentisch, klug und gewinnbringend“ einsetzen will, der darf vor allem nicht blind sein für das, was wir den sozialen Raum, die Mikro- und Makro-Sphären, die Blasen und Globen – um bereits mit Sloterdijk zu sprechen –[12] nennen können, die in zweifacher Weise das einhöhlen, was die Gentechnologie meint, enträtselt zu haben, nämlich den Code zur Produktion von Menschen.

Erstens wird dieser Code, diese sogenannte Schrift interpretatorisch eingehöhlt. Denn wenn das Genom tatsächlich, wie die Biologen nicht müde werden zu formulieren, in Form eines Codes, einer Schrift vorliegt, dann ist es hinsichtlich des Verständnisses, der Auslegung, der Entzifferung, kurz: der Hermeneutik wie jedes gelesene Wort, wie jeder Text abhängig von den Rezipienten, also abhängig von seiner biologischen Leserschaft, dann steht es gerade nicht auf dem Präsentierteller des Objektiven, kann auf es nicht mit dem Finger gezeigt werden; vielmehr muss man soziale Techniken der Interpretation einsetzen, um es zu entziffern, um es zu lesen. Und Lesen als psychisches und – wenn dessen Ergebnisse kommuniziert werden – als soziales Ereignis produziert Kontingenz, erzeugt einen Reichtum an Möglichkeiten der Sinninterpretation, so dass wir hier alles andere als Eindeutigkeit (z.B. hinsichtlich der Merkmalserkennung, geschweige denn -planung) erkennen können. Wie Peter Fuchs in einem ketzerischen Essay gezeigt hat,[13] blenden die Biologen in „nahezu bodenloser Ignoranz“ aus, „dass das am Lochstreifen der DNS kondensierende Material (der Körper) nichts ist, was irgendeine Bedeutung hätte (außer vielleicht verzehrbares Fleisch zu sein), wenn nicht eine andere, weitaus bedeutendere Macht auf dieses herausgetickerte Material zugriffe: die Sphäre des Sozialen“.

Zweitens wird die genetische Schrift in einer Weise sozial-systemisch eingehöhlt, die dazu führt, dass sie niemals direkt sogenannte Merkmale prägen kann. Es sind nämlich die Grenzen der sozialen Systeme zu ihrer biologischen Umwelt, zu der auch die Körper mit ihrer autopoietischen Determination gehören, an denen sich das Genom bricht, an denen es mit seiner vermeintlich determinierenden Durchschlagkraft zerschellt. Hinsichtlich des Sozialen schreibt es „nichts auf und nichts vor“,[14] wie Fuchs feststellt. „Niemand wird leugnen wollen, dass wir dem Genom unseren Mund, die Stimmritzen, die Geschmackspapillen verdanken, aber was der Mund tut, was er isst, was er nicht isst, wen er küsst (und wie er küsst), bei welchen Gelegenheiten aus ihm erbrochen wird, wann aus ihm gesungen wird (und ob Fangesänge oder Arien), welche Sprache mit ihm gesprochen wird (und was in dieser Sprache möglich oder nicht möglich ist), wird im Zuge der Sozialisation reguliert. Dass unser Körper sexuell reagieren kann, ist zweifelsfrei genetisch bedingt, aber bei welchen Gelegenheiten der sexuelle Motor offen anspringen kann oder nur leise Summen darf, welche Reize ihn anwerfen, wie seine polymorphe Perversität eingeschränkt oder ausgearbeitet wird, wie der Kontakt zwischen Liebenden angebahnt werden darf und wie nicht, wann Sexualität peinlich wirkt, wann locker, selbst zwischen wem sie zugelassen ist und wem nicht, dies alles entscheidet sich im Zuge dessen, was die sozialen Systeme (synchron und diachron weltweit verschieden) anbieten“.[15]

Aus dieser soziologischen Perspektive können wir also Sloterdijks Frage, ob biologische Merkmalsplanung überhaupt möglich sei, beantworten – und dies vielleicht anders als er selbst dies tun würde. Denn wir behaupten, dass eine solche Merkmalsplanung gar nicht oder nur beschränkt möglich ist, weil Merkmale immer durch den Kanal des Sozialen fließen, in den Rechner des Sozialsystemischen eingelesen werden müssen, erst im sozialen Verkehr relevant und daher sozial (also dialogisch interpretierend, sinnstiftend, sozial-systemisch kontextuell) und nicht biologisch geprägt werden. Bei der Beantwortung dieser Frage bleiben wir also streng systemtheoretisch und anerkennen keine Ausnahmen beim strukturell gekoppelten, sich gegenseitig zwar bedingenden, aber nicht determinierenden Wechselverhältnis in der Ko-Produktion von biologischen, psychischen und sozialen Systemen.[16]

*

Welche Sphäre das Soziale nun bildet, das unsere genetisch geerbten Merkmale interpretiert und in Schablonen des Verstehens und Verhaltens einprägt, indem es ihnen in sozialer Kommunikation eine sinnhafte Bedeutung verleiht, können wir beispielsweise bei komplexen Sozialentheorien wie der Luhmannschen Systemtheorie in präzisen Worten erfahren.[17] Ich schlage jedoch vor, dass wir unseren Blick von den technisch kühl funktionierenden soziologischen Navigationsinstrumenten der Systemtheorie einmal abwenden, den Autopiloten einschalten, der den Blindflug über den Wolken der Gesellschaft nun für einige Zeit für uns überwacht und einen Blick in Richtung Sonne werfen. Denn dort werden wir ein noch schwer kategoriesierbares Gebilde sehen können, das aus unbekanntem Material besteht, sich mit einem unbekannten Antrieb fortbewegt und dabei so schön und elegant wirkt, dass es uns den Atmen verschlägt. Dieses Gebilde, das wie die Systemtheorie die sozialen Sphären in angemessener Höhe abfliegt, aber hin und wieder die Wolkendecke durchstößt und manchmal der Sonne gefährlich nahe kommt, ist die Sphärentheorie von Sloterdijk. Nehmen wir uns ein wenig Raum, um diese Theorie zu betrachten – gewiss: vom sicheren Ort der Systemtheorie aus, denn es könnte gefährlich, ja sehr heiß werden, wenn wir uns zu dicht an die Sphärologie heran wagen.

Sloterdijk interessiert sich – zumindest im Band Sphären I, den er auch mit Blasen und Mikropsphärologie untertitelt – für die sozialen Nahräume, die uns mit stark seelisch, emotional und kognitiv integrierenden Momenten aus der existenziellen Entfremdungswelt der nur noch kommunikativ und kühl inkludierenden Systeme geradezu heilsam heraus reißen (können). Es geht in der Sphärologie nicht um Inklusion, sondern um Integration,[18] um die Frage, „wie menschliche Wesen aneinander und an interaktiv errichteten surrealen oder symbolischen oder imaginären Räumen teilhaben“.[19] Dabei sieht sich der Sphärentheoretiker selbst in eine Zeit gestellt, in der man seine Luhmann-Lektionen gelernt haben sollte: „Nach Luhmann denken – das bedeutet für mich: die altehrwürdigen Begriffe der Liebe, der Seele, des Geistes, ein wenig aktueller gesprochen: der Teilhabe am Anderen und der Existenz in gemeinsamen Animations- und Motivierungsräumen, derart neu zu fassen, daß in der Darstellung selbst die Erschwerungen fühlbar werden, die mit dem aktuellen ‚Weltzustand’ […] gegeben sind.“[20]

Diese Erschwerungen sind zunächst existenzieller Art, sie sind Erschwerungen, die die Gefühlslage des „sozial ortlosen“ Menschen in der Moderne in einen permanenten Leidenszustand versetzen, in dem Glück „immer nur als ein verlorenes zu denken [ist], nur als schöne Fremde.[21] Diese schöne Fremde, dieses Glück ist in der Regel für uns Heutige, für die alle möglichen („zähmenden“) Anthropotechniken (z.B. Psychotherapie) zum notwendigen Lebenselixier geworden sind, „nicht mehr als eine Ahnung, auf die wir mit Tränen in den Augen zugehen, ohne anzukommen.“[22] Sloterdijk scheint jedoch angekommen zu sein, er hat offenbar inzwischen die Seiten gewechselt, schreibt mittlerweile aus dem beseelten Innenraum einer intimen Sphäre des Glücks, einer zerbrechlichen Blase, in welche er (wieder) aus der existenziellen Erfahrungswelt der Einsamkeit, also von außen eindringen konnte: „Ich spreche jetzt eine Sprache der wiedergewonnen Animation. Alles was ich sage, beruht auf dieser Erfahrung der wiedergewonnen Beseeltheit zu mehreren. […] Ich weiß, was Oberflächlichkeit ist, und ich weiß, was dunkle Existenzialität ist und was das Pathos der Vereinsamung bedeutet, aber ich spreche jetzt ganz bewußt aus der anderen Perspektive, das heißt nach dem Wiedereintritt in diese sich selber reparierende Sphäre der zu mehreren geteilten Beseeltheit“.[23]

Vor dem Wiedereintritt in diese geteilte Beseeltheit, in diesen intimen Raum des Wir, dem er seine Sphärologie widmet, sah er die Welt noch mit Nietzsche, nämlich als ein Tor zu tausend Wüsten, leer und kalt. Jetzt auf der anderen Seite dieses Tors angekommen, auf der Seite der Sonnen durchfluteten grünen Oasen, voll und warm, kann Sloterdijk die Frage nach der Möglichkeit „der Wiederherstellung der Teilhabe“ beantworten. Jetzt erst, nachdem er – wie jeder „sphärengestörte Mensch“, der draußen war, der durch „diese Entfremdungswüste, durch diese Kältewüste und durch diese Nichtteilhabewüste“[24] gegangen ist –, ja jetzt erst, nachdem er das Leiden der Menschen an der Welt erfahren, aber – wie nur wenige – überwinden konnte, unternimmt er offenbar den Versuch, die beseelten Räume, die intimen Sphären und die Zugangsmöglichkeiten zu ihnen zu beschreiben. 

Dabei verrückt er viele Voraussetzungen und schweigend akzeptierte Regeln unseres alteuropäischen Denkens, z.B. die Startposition der Philosophie. Denn Philosophie wird bei ihm zum Maßstab für die Möglichkeit, die Einsamkeit, nämlich die Kälte der Eins zu verlassen. Philosophie fängt für Sloterdijk daher nicht mehr mit der Eins, dem Einen, etwa dem denkenden, sich selbst reflektierenden Subjekt, sondern mit der Zwei an, mit dem – systemtheoretisch gesprochen: Subjekt zweiter Ordnung, das erst dann subjektive Züge gewinnt, erst dann zur selbstreferentiellen Nicht-Trivialität wird, wenn es in einen Verweisungskontext des gegenseitigen, mindestens von zwei sich unterscheidenden Beobachtern markierten und damit sinngefüllten Kontext eintritt. Kurz: Sloterdijk verschiebt den Startplatz der Philosophie von der Eins zur Zwei: „Ich lasse die Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen.“[25] Sphäre ist für ihn in dieser philosophischen Schreibweise der Dyade, der Zweiheit eine sich selbst umkreisende Relation zwischen (mindestens zwei) Elementen: „Was ich Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben“.[26]

In Sphären I wird eine mit der soziologischen Systemtheorie verwandte philosophische Sozialtheorie entworfen, die sich zwar nicht mit kühlen Inklusions-Systemen, sondern mit den warmen Integrationsräumen beschäftigt, die aber genauso wie das systemische Denken deutlich machen will, dass die Welt aus Relationen besteht, deren Knoten- bzw. Umlaufpunkte, deren Enden zwar Substanzen, Dinge und Subjekte hervorscheinen lassen. Nicht aber diese „festen“ Entitäten sind es, die die Relationen produzieren, sondern umgekehrt: die Beziehungen, die Kommunikationen erschaffen die Personen. Person kann man nur sein in Relation zu anderen Personen. „Noch einmal fragen wir: Wo ist das Individuum? Und geben die sphärologische Antwort: Es ist zunächst und zumeist Teil eines Paares“.[27] Und Sloterdijk fährt fort wie ein Paar- und Familientherapeut, der anzugeben versucht, woraufhin er seinen Beobachtungs- und Interventionsfokus justiert, nämlich „auf die unsichtbare oder virtuelle Paarstruktur“.[28] Es reiche nicht aus, das Paar zu betrachten, sondern wofür sich die Sphärologie interessiert ist das Dritte zwischen den das Paar bildenden Partnern, das etwas Emergentes bildet, etwas, das weder auf den einen noch auf den anderen Partner zurückgeführt werden kann.

Wir können hier sehr deutlich sehen, dass das, was das systemische Projekt seit langem versucht, nun auch in die Philosophie von Sloterdijk hinein schwappt, nämlich der Versuch, das Substanzdenken zugunsten eines Denkens von Beziehungen zu überwinden: „Das philosophische Engagement von Sphären I besteht in dem Vorsatz, die in der philosophischen Tradition stiefmütterlich behandelte Kategorie der Relation, der Beziehung, des Schwebens in einem Ineinander-Miteinander, des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Größe zu erheben und die sogenannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Schwebens zu behandeln“.[29]

Und diese „Geschichte des Schwebens“ ist die Geschichte von Blasen. Blasen sind das Sinnbild für das Zerbrechlichste, was es in der „Zwischenwelt“ der Menschen, in den Sphären gibt, für das, was wir gemeinhin intime menschliche Beziehungen, was wir Liebe (nicht nur erotische, sondern auch freundschaftliche oder Elternliebe) nennen und so bestaunen sollten wie ein Kind vorsichtig in die Luft gehauchte und schwebende Seifenblasen bestaunt. Sicher, Blasen werden früher oder später platzen. Die Hoffnung des Kindes auf ewiges Fliegen der Blasen wird enttäuscht. So folgt der momenthaften Erfahrung des Glücks (z.B. beim Zusehen, wie die Blasen schweben) zwangsläufig die Enttäuschung der Hoffnung, ja das Unglück – oder noch schlimmer: „Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist“.[30] Doch der ist bemitleidenswert, der hier im Unglück verweilt, der die Melancholie länger als es nötig ist, um den psycho-hygienisch wichtigen Trauerprozess durchzuleben und abzuschließen, als Gast zu sich bittet. Zumeist „kehrt die Spielfreunde mit ihrem bewährtem grausamen Vorwärts wieder. Was sind geplatzte Hoffnungen anderes als Anlässe zu neuen Versuchen?“[31]

Diese neuen Versuche werden wieder mit Hoffnungen einhergehen, mit Hoffnungen, die wir aus den tiefen Schichten unseres Wunschspeichers entnehmen, der – wie wir noch sehen werden – von der Übertragung lebt. Wir wünschen, so spricht nicht nur Sloterdijk, sondern das Leben selbst, nichts sehnlicher als in intimen Räumen zu leben, zu lieben. Und jedes Lieben, wenn es denn das Glück hat, die psycho-biologische, die kognitiv-emotionale Sphäre in Richtung Sozialität zu überschreiten, führt zu einer sozialen Sphärenbildung, zu einer „Innenraumschöpfung“.[32] Diese Innenraumschöpfung, und dies ist für mich eine heilsame, für manche sicher eher eine überraschende These, lebt von dem (psychoanalytisch geprägten) Phänomen der Übertragung.

Wenn wir unsere sphärische Urerfahrung in die Gegenwart hinein, ja über-tragen können, dann sind wir heil, sind wir ganz, nämlich so, dass wir lieben können ohne zu leiden, dass wir die anderen nicht brauchen als welche, die unsere seelischen Löcher stopfen. Diese Löcher sind nämlich Erinnerungslücken bezüglich der sphärischen Urerfahrung der gelebten Zweiheit, die bereits im Mutterleib als „intra-uterine Kohabitation mit der Plazenta“[33] bestand: „Alle Geburten sind Zwillingsgeburten; niemand kommt allein zur Welt. Auf jeden Ankömmling [auf jeden Orpheus; H.K.], der zum Licht hinaufsteigt, folgt eine Eurydike, anonym, stumm und zum Anschauen nicht geschaffen. Was übrigbleiben wird, das Individuum, das nicht noch einmal Teilbare, ist schon das Ergebnis eines Trennungsschnitts, der die vorzeitlich Unzertrennlichen in Kind und Rest aufteilt. Eurydike geht unter, doch ihr Verschwinden ist nur scheinbar ein spurloses, denn außer dem Nabel – jenem im Fleisch festgehaltenem Denkmal der aufgelösten Verbindung mit ihr – hinterläßt sie eine sphärische Leerstelle im Umraum des Kindes, ihres Protégés und Zwillings“.[34] Diese Leerstelle muss immer und immer wieder neu besetzt werden; zuerst mit der Mutter, deren Beziehungsmöglichkeiten dann erneut die Übertragungsvorlage bilden für weitere Ein- und Hineinschnitte in die sphärischen Beziehungswelten.

Die Menschen sind „bleibend auf anonyme Begleitung hin angelegt“.[35] Die Übertragung dieser Erinnerung auf gegenwärtige Objekte und Räume führt zur Liebe. Aber wehe diese Übertragung gelingt nicht, dann führt die für das Misslingen verantwortliche „Verwerfung der Erinnerung an das Proto-Dual […] zu schlechten Ersatzbildungen. Man verlernt das Finden, wenn das Suchbild zerstört ist“.[36]

Daher ist die Sphären, ist die intime Innenräume eröffnende Liebe hinsichtlich des Proto-Duals der Zweiheit mit der Plazenta die Schablone für Liebe schlechthin, eben Übertragungsliebe. Sie kann andere Objekte und Räume, sprich: Sphären mit Liebe zwischen Menschen beseelen, weil sie immer schon geliebt hat und nach wie vor liebt. Sloterdijk rehabilitiert damit das psychoanalytische Beziehungsprinzip, das uns in der Regel als Pathologie aufgetischt wird. Menschen die „gesund“ übertragen, scheinen solche zu sein, „die gegen maligne Beziehungen am meisten immun sind“, Menschen also, „die mit ihrem okkulten Zwilling in einer diskreten Beziehung leben – sie haben den berühmten Schutzengel, zeitgemäßer gesprochen, sie passen gut auf sich selber auf“.[37]

Von dieser Übertragung lebt nicht nur die Liebe, sondern die Kreativität in der Welt: „Leider hat man sich im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs mit der Auffassung abgefunden, die Übertragungsliebe als einen neurotischen Mechanismus zu charakterisieren, der daran schuld ist, daß echte Leidenschaften meistens an falscher Stelle empfunden werden. Nichts hat dem philosophischen Denken so geschadet wie diese klägliche Motivreduktion, die sich zu Recht und zu Unrecht auf psychoanalytische Muster berief.“[38] Die Übertragung, die ein Ergebnis der dyadischen Urszene, der Beziehung des Kindes zur nährenden Plazenta und damit indirekt zu seiner Mutter ist, erscheint in der Sloterdijkschen Lesart als „die Formquelle von schöpferischen Vorgängen […], die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln“.[39]

*

Um zum Ausgangsthema zurückzukehren, wollen wir schließlich fragen, was passieren würde, wenn man die beschriebene dyadische Ursituation durch die Realisierung von maschinenähnlicher Menschenproduktion – etwa im Sinne Aldous Huxleys Brave New World[40] (was sicherlich immer noch Utopie ist) – ihrer natürlichen Dynamik berauben oder gänzlich beseitigen würde, wenn keine biologisch-lebendige Plazenta/Kind- bzw. Mutter/Kind-Beziehung mehr möglich werden kann, weil Menschen in synthetischen Tröpfen, in kühlen Räumen (z.B. in Reagenzgläsern und Flaschen), in Un-Sphären gezüchtet werden. Sloterdijk beantwortet diese Frage nicht. Aber wir können spekulieren: Solche Wesen – ob man sie Menschen nennen kann, mag ich nicht beurteilen – würden vermutlich sehr enge emotionale und kognitive Grenzen haben, denn ihnen fehlt das Übertragungsvermögen der frühsten Liebeserfahrungen auf alles spätere emotional bis zur Liebe Berührende und Sphären Schaffende. Denn – so Sloterdijk, und zwar frei nach Ludwig Wittgenstein:[41]„Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt.“[42]


[1]Dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass ich Sozialarbeiter geworden bin. Denn die Sozialarbeit beschäftigt sich in der klassischen Sichtweise mit denen, die von der Norm abweichen, mit den Devianten. Obwohl wir aus postmoderner Perspektive inzwischen wohl sagen können, Devianz ist normal, Abweichung zur Konformität geworden.

[2]Siehe zu diesen Thesen, die auch unter dem Titel Elmauer Rede bekannt geworden sind, Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

[3]Siehe zu solchen und ähnlichen Vorwürfen z.B. Thomas Assheuer, Zarathustra-Projekt, in: Die Zeit, 2. September 1999.

[4]Silvio Vietta, Sloterdijk, Heidegger und die Habermas-Schule, in: literaturkritik.de Nr. 10 – Oktober 1999, http://www.literaturkritik.de/txt/1999-10-23.html [16.10.2001], S. 2.

[5]Diese Möglichkeit werde ich weiter unter zumindest bezüglich der Chance einer eindeutigen Merkmalsplanung mittels genetischer Manipulation aus systemtheoretischer Sicht radikal infrage stellen.

[6]Peter Sloterdijk, Nachbemerkung, in: ders., Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus,Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 59f.

[7]Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, a.a.O., S. 41f.

[8]Peter Sloterdijk, Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, http://www.goethe.de/uk/bos/deutsch/programm/depslot2.htm [17.10.2001], S. 5.

[9]Vgl. hierzu Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke. Band XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt/M.: Fischer, S. 419-506.

[10]Ich denke diesbezüglich beispielsweise an die Unwahrscheinlichkeit der direkten instruktiven Interaktion von Erziehern, Therapeuten und Sozialarbeitern bezüglich ihrer „Schützlinge“. Vgl. dazu beispielsweise Heinz J. Kersting, Intervention: Die Störung unbrauchbarer Wirklichkeiten, in: Bardmann, Theodor M. u.a. (Hrsg.): Irritation als Plan: Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting 1991, S. 108-133.

[11]Peter Sloterdijk, Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, a.a.O.

[12]Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen. Mikrosphärologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998; ders., Sphären II. Globen. Makrosphärologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

[13]Peter Fuchs, Biologisch ausbuchstabiert. Wenn Metaphern Debatten beherrschen: Bemerkungen zu einer Suppe, die sich bei näherem Hinsehen als heißgerührte Kaltschale entlarven lässt – Zur Entzifferung des Genoms und anderen Problemen mit der Sprache, in: die tageszeitung, 11.7.2000, S. 14.

[14]Peter Fuchs, a.a.O.

[15]Ebd.

[16]Siehe ausführlich zu den interdisziplinären Voraussetzungen eines solchen systemtheoretischen Denkens Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984.

[17]Siehe wiederum Niklas Luhmann, a.a.O.

[18]Siehe zu dieser Unterscheidung Armin Nassehi, Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration. Die Theorie funktionaler Differenzierung und die Desintegrationsthese, in: Heitmeyer, W. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 113-148 oder auch Heiko Kleve, Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion. Eine Verhältnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht, in: Sozialmagazin, Heft 12/2000: S. 38-46.

[19]Peter Sloterdijk, Der Anwalt des Teufels. Niklas Luhmann und der Egoismus der Systeme, in: Soziale Systeme 1/2000, S. 38.

[20]Ebd.

[21]Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 23.

[22]Ebd.

[23]Peter Sloterdijk, Die Sphären des Peter Sloterdijk. 86. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 22.06.1999. Lesung: Peter Sloterdijk, http://www.humboldtgesellschaft.de/inhalt.php?name=sphaeren [17.10.2001].

[24]Ebd.

[25]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 147.

[26]Ebd. 

[27]Ebd., S. 146.

[28]Ebd.

[29]Ebd., S. 139.

[30]Michel Houellebecq, Elementarteilchen, Köln: DuMont 1999, S. 278.

[31]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 18. 

[32]Ebd., S. 14.

[33]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, a.a.O., S. 168.

[34]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 419.

[35]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, a.a.O., S. 168.

[36]Ebd.

[37]Ebd.

[38]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 14.

[39]Ebd.

[40]Aldous Huxley, Brave New World, London: Chatto & Windus 1932.

[41]Ludwig Wittgenstein äußerst im Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (5.6).

[42]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 14.

Der Einbruch der Freiheit – revisted

Die Illusion vom Kollabieren der Ost-/West-Unterscheidung in der Corona-Krise

Wenige Tage ist es her, da erinnerte ich mich wieder an den so genannten „Tag der Republik“. Der 7. Oktober war in der DDR ein Nationalfeiertag. Damit wurde an die Staatsgründung an eben diesem Tage im Jahre 1949 erinnert. Für mich ist dieser Herbsttag jedoch emotional vor allem verbunden mit meiner Teilnahme an der Freiheitsdemonstration in Berlin am 7.10.1989. Wir trafen uns an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz, liefen mit Zwischenstation am Palast der Republik, wo die Staatsführung geneinsam mit Michail Gorbatschow den 40. Jahrestag der DDR feierte, weiter zur Gethsemanekirche im Stadtteil Prenzlauer Berg. Diese Kirche hatte sich, wie viele ähnliche Orte in der gesamten DDR, zu einem Zentrum der friedlichen Proteste entwickelt. Von solchen Stätten, die es in der DDR der 1980er Jahre einige gab, ging die friedliche Revolution aus, die schließlich zum Einbruch der Freiheit in ein autoritäres realsozialistisches System führte.

Diesen positiven Freiheitseinbruch erlebten viele Menschen nicht nur meiner Generation euphorisch, hoch emotionalisiert und mit dem Willen, die neu gewonnenen Möglichkeiten des Lebens nicht nur zu genießen, sondern etwas daraus zu machen sowie sehr wachsam zu behüten. Daher erfuhr ich im März 2020 mit dem Ausrufen des ersten Lockdowns und den beginnenden Pandemie-Strategien der Politik, der Medien und Teilen der Wissenschaft geradezu eine Re-Traumatisierung, die ich in essayistischen Reflexionen zu bearbeiten versuchte (insbesondere hier: https://kure.hypotheses.org/846). Neben dem Gefühl, dass wir gerade in der Gefahr stehen, etwas zu verlieren, was wir DDR-Bürger erst 1989/90 durch friedliche Proteste errungen haben, nämlich die Freiheit, beschlich mich die Hoffnung, dass wir auch etwas gewinnen könnten, nämlich das Kollabieren der Ost-/West-Trennung. 

Ich vermutete, dass durch die aktuelle kollektive Erfahrung der Corona-Krise die Differenz zwischen Ossis und Wessis mehr und mehr eingeebnet wird. Diese uns sehr prägenden Erlebnisse der politischen und medialen Reaktionen auf eine Pandemie, so dachte ich, werden uns im Osten und Westen zusammenführen, auf ein Gemeinsames hin ausrichten. Die letzten noch trennenden Barrieren zwischen den Ost- und Westdeutschen werden damit einbrechen, und wir werden in einer jetzt endlich gefühlten Einheit, in neuer Gemeinsamkeit in die Zukunft gehen. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass diese Hoffnung wie eine Seifenblase zerplatzt ist. Die These vom Kollabieren der Ost-/West-Trennung im Kontext der gemeinsamen Bewältigung der Pandemie hat sich als Illusion offenbart.

Die Verarbeitung der pandemischen Freiheitseinschränkungen sowie die Bewertung der staatlichen Maßnahmen und ihrer Protagonisten in der Politik und in ihrer medialen Verkündigung scheinen im Osten und Westen jeweils recht unterschiedlich zu sein. Während ich die Verhältnismäßigkeit der Pandemiebekämpfung seit März 2020 grundsätzlich infrage stellte und mitbekam, dass diese in den neuen Bundesländern tatsächlich auch laxer umgesetzt wurde als in den alten, überkam mich schnell das Gefühl, dass hier alte Erfahrungen offenbar nach wie vor Wirkung entfalteten. Der Corona-Alltag fühlte sich in den neuen Bundesländern weniger rigide und anstrengend an als in den Ländern der alten BRD. Während man im Osten auch mal maskenlos öffentliche Innenbereiche betreten konnte, ohne gleich zur Ordnung gerufen zu werden, erlebte ich im Westen eine extreme Disziplin und bürgerliche Alltagsaufsicht beim Befolgen der so genannten AHA-Regeln.

Mein Vergleich zwischen der DDR und der gegenwärtigen deutschen Pandemie-Republik offenbart drei Muster, die ich als Gemeinsamkeit zwischen diesen Zeitepochen identifiziere und auf die Ostdeutsche, die die Freiheitserfahrung von 1989/90 bewusst erlebten, feierten und nutzten, mit äußerster Skepsis bis Ablehnung reagieren dürften (ausführlich dazu: https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/das-auferstehen-der-kontrollgesellschaft):

  • Erstens erlebten wir in der DDR und spüren auch jetzt die politische wie mediale Vorstellung, dass es möglich sei, komplexe bio-psycho-soziale Zusammenhänge objektiv zu erkennen und genauestens zu quantifizieren; nichts anderes wird uns mit absoluten, nicht ins Verhältnis gesetzten Corona-Zahlen unterschiedlichster Art nach wie vor täglich vergegenwärtigt.
  • Zweitens waren die Herrschenden in Ostdeutschland und sind es offenbar auch im pandemischen Deutschland von der Hybris getrieben, sie könnten durch autoritäre Maßnahmen komplexe Zusammenhänge kontrollieren. 
  • Und drittens wurden in der DDR sowie in den letzten eineinhalb Jahren grundsätzliche Kritikpositionen zu den vorherrschenden, politisch wie medial dominanten Perspektiven nicht nur aus dem Diskurs ausgegrenzt, sondern sogar moralisch, politisch und wissenschaftlich diffamiert.

Dass die Kontrolle eines respiratorischen Virus nicht möglich ist, weil dieses in komplexen bio-psycho-sozialen Zusammenhängen wirkt und jede entsprechende Kontrollintervention mit nicht-intendierten Effekten einhergeht, die grundsätzlich nicht prognostizierbar sind, offenbart beipielsweise das Scheitern der Zero- bzw. No-Covid-Strategien, insbesondere in Australien und Neuseeland. Ich plädiere jedoch nicht für ein Laissez-Faire im Umgang mit Corona, sondern für Maßnahmen, die kompatibel sind mit unseren gewachsenen liberal-demokratischen Prinzipien einer offenen und pluralistischen Gesellschaft (siehe dazu insbesondere die Vorschläge der Gruppe „Corona-Aussöhnung“, mit denen ich weitgehend übereinstimme: https://coronaaussoehnung.org). Das gilt schließlich auch für die Impfstrategie. 

Wer das Impfen wie in der aktuellen Weise bewirbt, es mit Verlockungen wie kostenlosen Bratwürsten, rigiden Sanktionen wie 2-G-Regeln oder angedrohtem Lohnstopp bei Quarantäne durchzusetzen versucht, muss sich nicht wundern, wenn die Menschen skeptisch werden, mit Ablehnung und Zweifel auch hinsichtlich dieser Maßnahme reagieren. Gerade im Osten, nicht nur Deutschlands, sondern in ganz Osteuropa, werden wir dann besonders vorsichtig und widerständig, wenn der Staat unsere persönliche Integrität infrage stellt, wenn er uns zu etwas zwingen will, wozu wir uns letztlich nur selbst, durch eigene rational reflektierte und emotional abgewogene Entscheidungen durchringen können, etwa zum Impfen. Und wenn wir uns dagegen entscheiden, dann erwarten wir, dass dies akzeptiert wird.

Wenn wir derzeit auf die Impfquoten der ostdeutschen Bundesländer oder der osteuropäischen Staaten schauen, dann können wir sehen, dass hier die Skepsis gegen diese bio-medizinische Maßnahme offenbar viel größer ist als in den westlichen Bundesländern und westeuropäischen Staaten. Ein Grund dafür scheint die Staatsskepsis zu sein, die Vorsicht gegenüber behördlich angepriesenen Maßnahmen, die in ihrer Rationalität offenbar vermischt sind mit anderen, etwa machtpolitischen oder pharmakologischen Interessen.

Mehr als eineinhalb Jahre nach Beginn der Corona-Krise wird deutlich, dass das Kollabieren der Ost-/West-Trennung keine Folge dieser Krise sein kann, wie ich im März 2020 noch hoffte. Was könnte dann ein positiver Ausblick sein in einer Zeit, die von weiteren Spaltungen, etwa zwischen geimpften und ungeimpften Menschen, belastet ist? Vielleicht ist es die Tatsache, dass die kommunikative Aufmerksamkeit innerhalb der hochkomplexen Gesellschaft wieder in andere Richtungen gehen wird. Das, was uns trennt, sind zumeist unsichtbare Grenzen, sind psycho-soziale Unterscheidungen, Marken, die wir selber setzen. Daher haben wir in unseren sozialen Begegnungen und Gesprächen die Macht, die Aufmerksamkeit in andere Richtungen zu lenken, das Verbindende zwischen uns, das, was uns aneinander sympathisch ist und positiv auffällt, zu fokussieren. Genau dieser Fokus, für den wir uns selbst in jedem Hier und Jetzt jeweils neu entscheiden können, nährt meine Hoffnung. Denn die Freiheit beginnt mit unseren eigenen Wahrnehmungen und ihren sozialen Wirkungen.

Der Einbruch der Freiheit, 1989 und 2020. Eine Momentaufnahme

Dieser Text wird erscheinen im Carl Auer-Band:  „Vom Träumen und Aufwachen – Zwischen Identität und Wandel – Auf Spurensuche“ (Heidelberg: 2020, ISBN ist 978-3-8497-0361-5), in Vorbereitung.

„Freiheit, Freiheit, ist das Einzige, was zählt.“

Marius Müller-Westernhagen

I.

Im Jahre 1989 fühlte ich mich als Teil einer Bewegung, die die individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten in Ostdeutschland erkämpft hat. Als knapp Zwanzigjähriger war ich mit auf den Straßen, etwa am 7. Oktober 1989 in Berlin an der Weltzeituhr. Wir demonstrierten zum Palast der Republik, in dem Michail Gorbatschow zusammen mit der DDR-Staatsführung den 40. Jahrestag des Landes feierte. Während der Demonstration skandierten wir „Freiheit, Freiheit“ und sangen die Internationale, die das Menschenrecht erkämpft.

Diese Demonstration, mein damals gesteigertes politisches Engagement und vieles Weitere, was diesem Erlebnis vorausging und in den Monaten und Jahren danach kam, hat sich tief in mein Denken, Fühlen und Wollen eingeprägt. Ich konnte von diesem Zeitpunkt an mein Leben anders leben, privat und beruflich, intellektuell und emotional, sowie Ziele erreichen, die ich in der Unfreiheit der DDR nicht hätte erklimmen können. Ich spüre die leidenschaftlichen Emotionen noch heute, wenn ich mich an diese Zeit erinnere. Damit ist Freiheit, und zwar in zahlreichen Hinsichten des Wortes, zu einem Wert für mich geworden, der mich in Kopf, Herz und Hand nachhaltig bestimmt, der mich in gesellschaftspolitischer Hinsicht zu einer konsequent liberalen Haltung geführt hat.[1]

Im Moment jedoch erleben wir eine Periode, in der die Freiheit (hoffentlich nur vorübergehend) verloren gegangen ist. Die politischen Reaktionen auf ein pandemisches Virus führten dazu, dass nahezu das gesamte öffentliche Leben still gestellt ist. Eine „Kontaktsperre“ ist ausgerufen. Wir sollen zuhause bleiben, um die Ausbreitung des Corona-Virus nicht zu befördern. Das Gesundheitssystem ist in diesen Zeiten offenbar das maßgebliche Gesellschaftssystem geworden, das die Politik in ihren Entscheidungen determiniert.

In einer solchen Zeit muss ich aufpassen, dass ich meine DDR-Vergangenheit in einem unfreien Land nicht mit der aktuellen Situation vermische, dass sich meine historischen und gegenwärtigen Erfahrungen nicht überlagern. Ich merke, wie ich mich anstrengen muss, dass mir bewusst bleibt, dass wir in einer liberal-demokratischen Republik leben, in der zwar gerade bestimmte Freizügigkeiten aus gesundheitlichen Gründen aufgehoben sind, dass die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland aber selbstverständlich nach wie vor gilt und funktioniert. Dennoch: 1989 brach die Freiheit in das Leben von uns DDR-Bürgern ein; und auch jetzt bricht die Freiheit ein, aber in der anderen Bedeutung dieser Formulierung.

Die aktuelle Krise macht mir deutlich, wie stark mein Denken und Fühlen von meiner DDR-Kindheit und Jugend geprägt ist. Die Erfahrung der Freiheit, wie sie für mich vor über 30 Jahren kam, und das Erlebnis, wie diese Freiheit jetzt (zumindest temporär) ging, wühlen mich auf. Genau davon werde ich im Folgenden berichten und Rechenschaft darüber ablegen, wie ich mich im Kontext dieser Freiheitserfahrungen derzeit reflektiere. Vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, in dieser intensiven Weise die DDR-Erfahrung zu thematisieren. Denn meine Vermutung ist, dass die Ost-/West-Unterscheidung in der Post-Corona-Zeit viel unwichtiger, vielleicht sogar bedeutungslos geworden sein wird. Möglicherweise werden unsere aktuellen Erlebnisse, die mit starken Emotionen der Verunsicherung und der Angst auf unterschiedlichen Ebenen unserer Existenz einhergehen, eine neue kollektive Erinnerung schaffen, die die Erfahrung der deutschen Teilung überlagern wird. Bald werden wir vor allem reden: über die Zeit vor und nach Corona. Aber was passiert eigentlich gerade, und wie reflektiere ich dies?

 II.

Es ist Ende März des Jahres 2020. Die Corona-Krise beschäftigt die ganze Welt. Ein neuartiges Virus der Art Corona infizierte ausgehend von Wuhan in China inzwischen weltweit tausende von Menschen.

Wir können es täglich in den Medien sehen, dass nicht nur in China, sondern auch in Europa, insbesondere in Italien und Spanien Krankenhäuser überlastet sind. Es sterben vor allem alte und gesundheitlich vorbelastete Menschen an Lungenentzündungen, die mit der Corona- bzw. Covid-19-Virusinfektion einhergehen. In Mittel- und Nordeuropa, Nord- und Südamerika, vor allem in den USA ist ebenfalls ein rasanter Anstieg der Zahl von Menschen zu konstatieren, die sich mit dem Corona-Virus angesteckt haben. Die Weltgesundheitsorganisation bewertet den aktuellen Zustand als Pandemie, als eine globale Seuche. Die Regierungen der einzelnen Nationen der Weltgesellschaft reagieren unterschiedlich auf diese Situation, aber tendenziell in einer Weise, die von den Virologen empfohlen wird: das gesellschaftliche Leben wird unterbrochen. Dennoch gibt es (noch) Länder, die es anders machen, etwa Schweden, Japan und Singapur. Dort gibt es Schutzmaßnahmen für die gefährdeten Bevölkerungsgruppen oder strikte Isolation von Infizierten bis zum Auskurieren der Infektion, aber das gesellschaftliche Leben geht in leicht eingeschränkter Weise weiter. Bei uns ist es anders: Hier steht derzeit nahezu die gesamte reale Öffentlichkeit still.

Die Menschen sollen ein Social Distancing praktizieren, was freilich keine soziale, sondern eine räumliche bzw. physische Distanzierung bedeutet. Sie sollen mindestens 1,50 Meter Abstand voneinander halten, um sich nicht gegenseitig mit dem Virus zu infizieren. Bestenfalls bleiben sie ganz zuhause. Die Schulen, die Universitäten, alle kulturellen Einrichtungen, Geschäfte (ausgenommen Lebensmittelverkauf, Drogerien, Apotheken und Baumärkte) sowie Restaurants und Bars sind geschlossen. Die Polizei und die Ordnungsämter achten darauf, dass sich die Bürger auf den Straßen nur einzeln oder maximal zu zweit aufhalten und den gebotenen Abstand zueinander beachten. Damit ist das Versammlungs- und Demonstrationsrecht aufgehoben. Zudem sind die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen worden. Der Flugverkehr ist weitgehend eingestellt. Die Freizügigkeit der Menschen hat ein vorläufiges Ende gefunden.

Das Ziel all dieser Maßnahmen ist, die Rate derjenigen zu minimieren, die sich mit dem Virus nahezu gleichzeitig anstecken. Denn das könnte unser Gesundheitssystem überlasten. Zwar verläuft die Covid-19-Infektion bei ca. 95 Prozent der Menschen harmlos, mit leichten bis mittleren Erkältungssymptomen. Aber bei ca. 5 Prozent kann mit schwereren Verläufen gerechnet, müssen in den Krankenhäusern besondere Behandlungen, z.B. künstliche Beatmungen vorgenommen werden.

Eine solche Pandemie führt dazu, dass staatliche Pandemiepläne in Aktion kommen, die die Freiheit der Menschen extrem einschränken. Stay at home lautet das Postulat, mit dem die politisch angeordneten Kontakteinschränkungen oder in einigen Regionen (etwa in Bayern) die Ausgangssperren einhergehen. Die Politik, die diese Maßnahmen entscheidet, anordnet und durchsetzt, wird derzeit vor allem von Virologen beraten, von Experten, für die die Eindämmung des Corona-Virus an erster Stelle steht. Mit dieser Begrenzung der Infektionen soll freilich das Leben von gefährdeten Menschen geschützt werden. Zudem gilt es, das Gesundheitssystem, insbesondere die Krankenhäuser und die dort arbeitenden Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal zu unterstützen, damit die Welle der schwer am Corona-Virus erkrankten Menschen nicht zu stark wird und alle die schwer betroffen sind, die Behandlung erhalten, die ihrem Zustand angemessen ist.

Das Ziel, die Gesundheit von Menschen zu sichern, ist selbstverständlich ein oberstes. Dafür sollte alles getan werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob es nur einen Weg gibt, dies zu erreichen, der Lockdown der gesamten Gesellschaft. Aktuell erleben wir, wie die Politik, der Hauptstrom der Medien und die Bevölkerung einig sind, dass genau dies der Weg ist, der beschritten werden muss, um die Corona-Krise zu bewältigen. Ich empfinde diese Akzeptanz der Alternativlosigkeit als erschreckend. Mich katapultiert die Corona-Krise mit den von der Politik eingeleiteten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, durch die Berichterstattung in den Medien und der moralisch aufgeladenen Kommunikation im Internet in einen emotionalen Ausnahmezustand, der zwischen Angst, Wut, Aufregung und Neugier hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen changiert. Mir ist es in der Tat ein Rätsel und es ängstigt mich, dass die Mehrheit der Bevölkerung die politischen Entscheidungen unwidersprochen akzeptiert.[2]

Es geht mir gar nicht darum, gegen diese Entscheidungen praktisch aufzubegehren. Denn auch in der aktuellen Situation erleben wir eine VUKA-Welt, also eine Situation, die von Volatilität, also von einer flüchtigen Geschwindigkeit der Ereignisse geprägt ist. Dies verunsichert, und zwar durch die Komplexität des gesundheitlichen Phänomens dieser Pandemie, die in ihrem Wirkungsgefüge vielschichtig und nie gänzlich erfasst werden kann. All dies führt zur Ambivalenz, zur Mehrdeutigkeit unserer aktuellen Welterfahrungen. Diese Mehrdeutigkeit wird bestenfalls akzeptiert, z.B. durch die Entwicklung unterschiedlicher Perspektiven des Denkens, Fühlens und Handelns. Genau das ist in der aktuellen Situation meine Intention: die angstgetriebene Gleichförmigkeit der Kognition und Kommunikation in der Gesellschaft aufzustören durch die Suche und Präsentation von Alternativen. Die Steigerung von Alternativität – das ist nach Peter Fuchs die systemische Minimalethik,[3] die wir jetzt üben sollten.

Woher kommen aber meine Intentionen und Bestrebungen, die getragen sind von der Unfähigkeit, einen Zustand auszuhalten, der sich auf eine Sicht, auf eine Strategie, auf eine Umgangsweise mit Corona/Covid-19 eingeschwungen hat?

III.

Ich führte es bereits aus, im Jahre 1989 war ich aktiv dabei, als wir in der DDR die Freiheit erkämpften – die Freiheit der Rede und Meinungsäußerung, die Freiheit des Versammelns und Demonstrierens, die Freiheit des Reisens, die Freiheit der Berufswahl, die Freiheit, dass jede/r nach ihrer/seiner Vorstellung im Rahmen der rechtlichen, ethischen und moralischen Grenzen sowie der allgemeinen Menschenrechte ihr/sein Leben gestalten kann sowie natürlich die Freiheit der gesellschaftlichen Systeme wie der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion etc. All diese Freiheiten gab es in Ostdeutschland nicht. Wir lebten in einer real-sozialistischen Diktatur. In einem Staat, dessen politisches Programm und staatliche Steuerungshybris die gesamte Gesellschaft zu bestimmen versuchten. Nur in den Nischen des Privaten und der Kirchen konnten zumindest Redefreiheiten erhalten werden. Aber die Öffentlichkeit war von Kontrolle und Bespitzelung durchdrungen. Das Jahr 1989 war eine euphorische Befreiung von Bevormundung und Gängelung. Erst jetzt konnten wir den Leitspruch der bürgerlichen Aufklärung gänzlich befolgen, nicht nur in unseren Gedanken, die bekanntlich frei sind, sondern auch in unseren öffentlichen Kommunikationen: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Immanuel Kant). Zu dieser Zeit brach also die Freiheit in mein Leben ein.

Während meiner Studien der Sozialen Arbeit und der Sozialwissenschaften entdeckte ich neue Konzepte, die mir halfen zu erklären, was in der DDR und in den anderen Ländern des Realsozialismus geschah und warum solche Systeme zum Scheitern verurteilt sind. Drei dieser Ansätze sind die soziologische Systemtheorie, die postmoderne Sozialphilosophie und der klassische wie der neuere Liberalismus.

Mit der soziologischen Systemtheorie konnte ich einen breiten sozialwissenschaftlichen Blick gewinnen und lernen, wie wir soziale Systeme betrachten können.[4] Für das Verständnis der DDR wurde mir augenscheinlich, dass bürgerlich-moderne Gesellschaften den realsozialistischen Staaten in nahezu allen Hinsichten überlegen sein mussten. Denn das, was die bürgerliche Moderne ausmacht, ist die Freiheit der gesellschaftlichen Systeme. Das heißt, dass sich Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion etc. nach jeweiligen Eigenlogiken entwickeln können und dass sie genau damit ihre beeindruckende Dynamik und ihren jeweiligen Erfolg entfalten können. In den Staaten des Realsozialismus waren nicht nur die einzelnen Individuen unfrei, sondern auch die gesellschaftlichen Systeme. Alle sozial-systemischen Prozesse von der Wirtschaft über die Wissenschaft, die Kunst und Kultur bis hin zur Religion wurden von der Politik dominiert. Wir lebten in einer staatlich zentrierten Gesellschaft. Der Staat, mit der Sozialistischen Einheitspartei (SED) an der Spitze, hat versucht, das gesamte gesellschaftliche Leben nicht nur zu überwachen, sondern zielgerichtet zu planen. Das ist eine Hybris, also eine Überschätzung und Überforderung, die zum Scheitern verurteilt war. Wir haben gesehen, dass nahezu alle Systeme in der DDR in ihrer Selbstentfaltung gehemmt und gebremst wurden. Das Scheitern war demnach systembedingt. Wir beobachten seit Jahren an China, dass die vermeintlich „sozialistische“ Politik dieses Landes ihr Überleben (zumindest vorerst) dadurch sichert, dass die Wirtschaft in ihre Eigenlogik entlassen wurde und extreme Wachstums- und Wohlstandseffekte zeitigen konnte.

Die postmoderne Sozialphilosophie, wie sie im deutschsprachigen Raum (im Anschluss an den französischen Diskurs) insbesondere Wolfgang Welsch vertritt,[5] zeigt den Nutzen der Akzeptanz von Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Differenz und Dissens für die Entwicklung von Gesellschaften auf. Die DDR war ein Land, das hinsichtlich der zerfallenen Gebäude und bezüglich der Äußerlichkeiten der Menschen recht grau war. Die Differenzen der Postmoderne jedoch blühen bunt und vielgestaltig. Wir leben unsere ganz unterschiedlichen Leben, erzählen unsere viele Geschichten, mit denen wir erklären und bewerten, wer und was wir sind. Diese Pluralität ist das Merkenzeichen der postmodernen Gemüts- und Geisteshaltung. Damit einher geht eine Akzeptanz für die Ambivalenz all unseres Denkens, Fühlens und Handelns. Denn das, was in uns kognitiv und emotional passiert, was wir aktional, also handelnd wollen, steht im Kontext von zahlreichen Alternativen: Wir könnten jederzeit auch anders. In einer freien Gesellschaft tragen wir genau dafür die Verantwortung, und zwar als Individuen im Kontext unserer engen lebensweltlichen Beziehungen, die wiederum eingerahmt sind von gesellschaftlichen Verpflichtungen und Erwartungen, die wir in all unseren Entscheidungen zu berücksichtigen haben. Dennoch sind wir frei, haben wir die Wahl im Rahmen differenter Möglichkeiten. Auch wenn dies mitunter eine Qual ist, weil sich mehrere Optionen offenbaren, zwischen denen wir ambivalent hin- und her pendeln, wollen wir diesen gewonnenen Zustand nicht wieder mit jenen eintauschen, der uns in der DDR in unserer Selbstentfaltung und Entscheidungsautonomie fesselte. Ich zumindest zahle den Preis der Freiheit sehr gerne: dass ich die volle Verantwortung für mein Leben trage.

Der klassische und neuere Liberalismus, der mir über die Lektüre von Sozialphilosophen wie Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises bekannt wurde,[6] verstärkt nochmals das, was Systemtheorie und Postmoderne – zumindest implizit – bereits verdeutlichen, nämlich den Wert der Freiheit. Freiheit ist demnach deshalb so wichtig, weil das Wissen dezentral verteilt ist. Das beste Beispiel dafür ist das System der Marktwirtschaft, das deshalb der Planwirtschaft des Realsozialismus derart überlegen ist, dass die Wirtschaft des Ostblocks in den 1980er Jahren kurz vor dem Zusammenbruch stand, weil es eben keine zentrale Steuerungsinstanz gibt. Die Relation von Angebot und Nachfrage lässt sich nicht von oben planen, sondern sie ergibt sich durch das selbstorganisierte Zusammenspiel unendlich vieler und gleichzeitig sich vollziehender Kaufentscheidungen. Diese Dezentralität von Entscheidungen ist in der modernen Gesellschaft in alle Systeme eingeschrieben. Kein System sollte über eine längere Zeit die Dominanz über die gesellschaftlichen Kommunikationen erhalten. Daher ist es wichtig, dass wir den aktuellen Zustand, den ich überspitzt und provokativ temporäre Gesundheitsdiktatur nenne, weil die prägenden politischen Entscheidungen dem Code „gesund/krank“ oder dramatischer: der Unterscheidung „Leben/Tod“ subsumiert werden, so schnell wie möglich überwinden. Denn im Normalfall ist unsere Gesellschaft von einem Liberalismus geprägt, der dafür sorgt, dass die systemisch verteilten sozialen Intelligenzen aller Sphären zum Zuge kommen können.[7]

 IV.

Meine biographischen Erfahrungen sowie meine theoretischen Interessen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben mich zu einem sehr engen Freund der Freiheit werden lassen, zu einem konsequenten Liberalen. Das heißt für mich, dass ich die Freiheiten in allen Lebens- und Arbeitsbereichen, in denen ich involviert bin, zu verteidigen versuche – nicht als ethischen Selbstzweck, sondern in der Überzeugung, dass Leben und Arbeiten besser werden, wenn sie in Freiheit geschehen. Das heißt zugleich, dass selbstverständlich jede/r auch mit der Verantwortung konfrontiert ist, die Konsequenzen der Entscheidungen, die in dieser Freiheit getroffen werden, zu tragen und zu diesen zu stehen. Diese Überzeugung hat mich dazu geführt, dass ich professionelle Hilfe, etwa als Soziale Arbeit oder als Beratung und Coaching, wofür ich als Theoretiker, aber auch als Coach, Vortragender und Dozent arbeite, ebenfalls liberal interpretiere.[8]

Das klassische Ziel professioneller Unterstützung ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Es geht darum, dass die Menschen, die beruflich erbrachte Fremdhilfe in Anspruch nehmen müssen, wollen oder sollen, so schnell wie möglich von dieser Hilfe wieder unabhängig werden. Ich plädiere hier für konsequentes Empowerment und radikale Orientierung an den Selbstgestaltungskräften der Nutzerinnen und Nutzer. Britta Haye, eine Professorin, die mich in meinem eigenen Studium sehr geprägt hat, pointierte uns Studierenden gegenüber regelmäßig den Satz: „Die Klienten wissen am besten, was gut für sie ist.“ Ausgehend von dieser Überzeugung arbeite ich mit an der Konstruktion von Theorien, Haltungen und Methoden, die es ermöglichen sollen, Menschen in ihrer Autonomie und Selbstentfaltung zu stärken.

Dies ist aber nicht nur eine theoretische und ethische Perspektive, sondern entspricht auch einem empirischen Phänomen, das ich die basale Ökonomie unserer Existenz nenne, nämlich die Reziprozität aller unserer Beziehungen: Wenn wir etwas nehmen, dann wollen wir etwas zurückgeben. Wenn wir etwas geben, dann können wir etwas nehmen. Diese Form der „‘Radikalen‘ Marktwirtschaft“, wie das Fritz B. Simon und Kollegen nennen,[9] bestimmt unser gesamtes Leben und Arbeiten. Für sozialprofessionelle Unterstützung heißt das, dass Menschen nicht nur Hilfe empfangen wollen, sie wollen selbst aktiv werden, selbst etwas geben, wieder in einen fließenden Reziprozitätsprozess hineinkommen. Wenn dieser Prozess jedoch ins Stocken gerät, dann sollten die Sozialprofessionellen ihre Strategien hinterfragen und sich neu orientieren.[10]

Auch mein Verständnis von Führung in Organisationen und Teams interpretiere ich in diesem Zusammenhang.[11] In der DDR haben wir trotz aller autoritären Gängelung und alltäglichen Bespitzlung gelernt, überall die Freiheit der Selbstbestimmung zu suchen, wir haben im Privaten wie Beruflichen Nischen aufgespürt, in denen wir uns selbst organisieren konnten. In dieser Weise entwickelten wir ein Gespür für das, was möglich ist. Nicht selten mogelten wir, taten wir so, als ob wir das befolgen würden, was offiziell von uns erwartet wurde, gehorchten dann aber doch unserer eigenen Kompetenz. Und diese hat uns zu anderen als den von „oben“ geforderten Entscheidungen und Handlungen geführt, bestenfalls zu solchen, die in den Kontexten, in denen wir Verantwortung trugen, weitaus passender waren als die hierarchisch angeordneten. Somit sehe ich auch hier und gerade für heutige Herausforderungen Dezentralität und Subsidiarität als wesentliche Ressourcen in Organisationen. Denn Entscheidungen sollten grundsätzlich dort getroffen werden, wo kompetente Verantwortungsträgerinnen und -träger am besten deren Wirkungen und Nebenwirkungen einschätzen können.

V.

Zurück zur gegenwärtigen Krise. Mir ist es wichtig, auch in der aktuellen Situation so frei wie möglich zu bleiben, selbst zu bestimmen, wie ich im Rahmen der politisch und rechtlich gesetzten Möglichkeiten, die zurzeit eingeschränkt sind, denke, fühle und handle. Die Autonomie und Selbstbestimmung über mein Leben lasse ich mir auch in Zeiten von Unsicherheit, Angst und Panik, die ich allenthalben in den noch offenen Geschäften, etwa beim Hamstern von Toilettenpapier, beobachte, nicht nehmen. Denn Autonomie und Selbstbestimmung sind in erster Linie Haltungen, für die wir uns bewusst entscheiden können – trotz aller gesellschaftlichen Zustände, die uns zweifellos tangieren und beeinflussen.

Eine wichtige geistige Übung ist dabei für mich: die Trennung des Vermischten, die Differenzierung von vergangener DDR-Erfahrung und aktueller gesellschaftlicher Situation in Zeiten von Corona. Davon habe ich eingangs bereits gesprochen: Ich erlebte also zweimal den Einbruch der Freiheit, einmal in positiver und einmal in negativer Weise, also in den beiden unterschiedlichen Bedeutungen dieser Formulierung. Aber das temporäre Schwinden der bürgerlichen Freiheiten in der gegenwärtigen Pandemie-Situation geschieht in einem demokratischen Staat mit frei gewählten Politikern, die eng mit der Bevölkerung verbunden sind. Das, was Karl Popper als ein zentrales Prinzip der offenen Gesellschaft bewertet, ist freilich nachhaltig etabliert: die derzeitige Regierung kann abgewählt werden.[12] Auch wenn sich die Emotionen überschlagen, die Vernunft kann trennen, separieren: zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Schließlich geht es darum, wieder in ein kreatives Denken zu kommen, das Alternativen zum aktuellen Zustand zu konstruieren in der Lage ist. Diesbezüglich sind Konzepte notwendig, die die Komplexität und die Zielkonflikte der aktuellen Situation berücksichtigen. Ein Verfahren, das dabei helfen könnte, ist das Modell des erweiterten Tetralemmas.[13] Damit lassen sich fünf Positionen vorstellen und durchspielen, bestenfalls ergänzt und angereichert durch eine Systemische Strukturaufstellung:

  • Die eine Position: Der Schutz der Gesundheit, insbesondere der Risikogruppen.
  • Die andere Position: Die Normalisierung der Gesellschaft, vor allem die Reaktivierung der bürgerlichen Freiheiten.
  • Beides: Die Suche nach Sowohl-als-auch-Strategien, wie beide genannten Ziele zugleich bzw. parallel realisiert werden können.
  • Keines von Beiden: Die Erkundung bisher noch nicht beachteter Kontexte, um Aspekte zu finden, die in der aktuellen Situation und angesichts der beiden genannten Ziele ebenfalls relevant sind und Lösungsvarianten ermöglichen könnten.
  • All dies nicht – und selbst das nicht: Die Öffnung für Veränderungen, Transformationen und Wandel ausgehend von der aktuellen Krise, die damit auch neue Chancen offeriert, um etwa Solidarität, Achtsamkeit und Sensibilität der Menschen untereinander in Freiheit zu befördern.

Eine Transformation könnte sein, dass wir in der Post-Corona-Welt die Ost-/West-Unterscheidung neu rahmen. Vielleicht wird diese Unterscheidung angesichts neuer Erfahrungen und brennender Probleme gänzlich in den Hintergrund treten. Bestenfalls schauen wir anders auf unsere Vergangenheit zurück und haben hoffentlich viel gewonnen. So wertschätzen wir wohl unsere bürgerlichen Freiheiten noch mehr als bisher, werden in neuer Weise, mit bewundernden Augen anblicken, was wir tun können: unser Leben frei zu führen.

[1] Siehe dazu etwa Heiko Kleve (2020a): Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit. Heidelberg: Carl Auer.

[2] Inzwischen werden zunehmend Alternativen zum aktuellen Shotdown diskutiert und überlegt, wie eine Exit-Strategie, vielleicht für nach Ostern, aussehen könnte. Siehe dazu z.B. sehr aufschlussreich Alexander Kekulé (2020):  Wege aus dem Lockdown. Risikogruppen stärker schützen, genug OP-Masken beschaffen und Smart Distancing – so beenden wir den Stillstand. Zeit Online vom 26. März 2020.

[3] Siehe dazu beispielhaft Peter Fuchs (2004): Die Moral des Systems Sozialer Arbeit – systematisch, in: Merten, R./Scherr, A. (Hrsg.), Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2004, S. 17-32. Dazu auch mein Eintrag im Carl Auer-Blog „Reduzierte Komplexe“ vom 19.03.2020: Heiko Kleve (2020b): Wenn in die Wirklichkeit die Realität einbricht. Covid-19 aus konstruktivistischer Perspektive, https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/wenn-in-die-wirklichkeit-die-realitat-einbricht.-covid-19-aus-konstruktivistischer-perspektive [29.03.2020].

[4] Siehe grundsätzlich dazu vor allem Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp und Ders. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

[5] Siehe etwa Wolfgang Welsch (1993): Unsere postmoderne Moderne. Akademie: Berlin.

[6] Siehe etwa Friedrich August von Hayek (1944): Der Weg zur Knechtschaft. Reinbek bei Hamburg: Lau/Olzog (2014) sowie Ludwig von Mises (1927): Liberalismus. Sankt Augustin: Academia (2006).

[7] Siehe aufschlussreich und vertiefend dazu: Armin Nassehi (2017): Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft. Hamburg: Murmann.

[8] Siehe nochmals Heiko Kleve (2020a), a.a.O.

[9] Fritz B. Simon/Conecta (2013): „Radikale“ Marktwirtschaft. Grundlagen des systemischen Managements. Heidelberg: Carl Auer.

[10] Siehe dazu noch einmal Heiko Kleve (2020a), a.a.O.

[11] Siehe dazu meinen Eintrag im Carl Auer-Blog „Reduzierte Komplexe“ vom 19.12.2019: Heiko Kleve (2020b): Führung zwischen Ost und West, https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/fuhrung-zwischen-ost-und-west [29.03.2020].

[12] Karl Popper (1945): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons. Band II: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen: Mohr Siebeck (1992).

[13] Siehe grundsätzlich zu diesem Modell: Matthias Varga von Kibéd/Insa Sparrer (2009): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl Auer. Mit Anwendungen für die Soziale Arbeit siehe: Heiko Kleve (2011): Aufgestellte Unterschiede. Systemische Aufstellung und Tetralemma in der Sozialen Arbeit. Heidelberg: Carl Auer.

Re-Integration des Psycho-Sozialen als Voraussetzung für die Bewältigung von Komplexität

Vor einigen Wochen hatte ich das große Glück, an einem gruppendynamischen Training in der Tradition von Kurt Lewin teilzunehmen. Solche Trainingsgruppen erleben derzeit eine Art Revival, obwohl sie für die Beteiligten sehr anstrengend sind. Denn in einer gruppendynamischen Trainingsgruppe, die in der Regel aus sieben bis zwölf Personen besteht, und über eine Woche mit sechs- bis siebenstündigen täglichen Trainings verläuft, geht es um nichts anderes als um das Erleben und Reflektieren der aktuellen Selbstorganisationsprozesse der Gruppe. So kann die Gruppe, die sich aus fremden Personen zusammensetzt, als ganz besonderes psycho-soziales Feld erfahren werden: nämlich als Raum von kognitiver Erfahrung, emotionaler Befindlichkeit und sozialer, kommunikativer Handlungsdynamik sowie als Reflexion all dessen. Weiterlesen „Re-Integration des Psycho-Sozialen als Voraussetzung für die Bewältigung von Komplexität“

Wiederentdeckung der Familie

Publiziert in: Lampenfieber, Staatstheater Cottbus, Nr. 29, 2011, S. 2.

Es ist gar nicht lange her, da wurde in den Sozialwissenschaften über den Abgang der Familie schwadroniert. Die Familie, so hieß es, sei ein Auslaufmodell. Immer weniger Menschen würden den Bund der Ehe eingehen, ein Leben lang zusammen leben und Kinder zeugen wollen. Außerdem steige die Zahl der Scheidungen kontinuierlich. Dass diese Feststellungen keineswegs falsch sind, zeigt bereits ein oberflächlicher Blick in die Statistiken. Dennoch kann daraus nicht geschlussfolgert werden, dass die Familie aufhöre zu existieren. Das Gegenteil ist eher der Fall: Familien vervielfältigen sich. Durch Scheidungen und das anschließende Neugründen von Partnerschaften entstehen neuartige familiäre Formen, so genannte Patchwork-Familien. Außerdem ist Familie mehr als der Alltagsverstand gemeinhin wahrhaben will, nämlich ein besonderes System. Dass dies so ist, können wir insbesondere dann sehen, wenn wir den gesellschaftlichen Rahmen betrachten, in dem sich Familie heutzutage vollzieht. Weiterlesen „Wiederentdeckung der Familie“

KEA-Prozess des Systemischen Aufstellens

Systemische Aufstellungen an Hochschulen verwirklichen die Vision eines ganzheitlichen Lernens, das Kognition, Emotion und Aktion (KEA) gleichermaßen einbezieht. Auf der Ebene der Kognition, der Erzeugung von Information und Wissen bieten Aufstellungen die Möglichkeit, Systeme zu simulieren, um so systemisches Wissen zu generieren, das aus den Relationen zwischen Elementen von Systemen hervorgeht. Die Ebene der Emotion wird durch Aufstellungen einbezogen, weil sie körperliche Erfahrungen anregen, die Auskunft darüber geben können, in welcher Weise systemische Prozesse zwischen Elementen als passend oder als unpassend bewertet werden können. Dies kann auf der Ebene der Aktion Handlungsimpulse freisetzen, die Systemveränderungen, also Modifikationen zwischen den Relationen von Systemelementen herausfordern. Damit offenbaren sich schließlich systemische Aufstellungen als qualitative Forschungsinstrumente, die eine systembezogene Exploration von komplexen bio-psycho-sozialen Prozessen ermöglichen und die Isomorphie aller Systeme veranschaulichen, die das menschliche Leben in seiner bio-psycho-sozialen Einbettung prägen.

 

Hayeks Kritik am Konstruktivismus – oder: Die Rettung des Konstruktivismus vor dem Konstruktivismus

Der Begriff „Konstruktivismus“ kann unterschiedlich verstanden werden. Daher wollen wir hier ein Konstruktivismus-Verständnis kritisieren und abwehren, das insbesondere in der sozialphilosophischen Perspektive des neueren Liberalismus, vor allem von Friedrich August von Hayek (1970) als äußerst problematisch bewertet wird. Demnach wird das Wort „Konstruktivismus“ „als spezifische Bezeichnung einer Einstellung [definiert], die bisher gelegentlich ungenau durch das vieldeutige und daher irreführende Wort Rationalismus bezeichnet worden ist“ (ebd.: 210). Der Grundgedanke der konstruktivistischen Auffassung, die Hayek kritisiert, lautet, „daß der Mensch die Einrichtungen der Gesellschaft und der Kultur selbst gemacht hat und [er] sie daher auch nach seinem Belieben ändern kann“ (ebd.). Diese Auffassung sei grundsätzlich abzulehnen. Weiterlesen „Hayeks Kritik am Konstruktivismus – oder: Die Rettung des Konstruktivismus vor dem Konstruktivismus“

System Compliance in Unternehmerfamilien

Konfliktprävention durch Beachtung elementarer Systemregeln

Unternehmerfamilien als „verdoppelte Familien“

Unternehmerfamilien sind besondere Systeme. Sie müssen zwei unterschiedliche Kulturen in sich vereinen. Zum einen sind sie, wie alle Familien, durch verwandtschaftliche, bestenfalls vertraute Beziehungen gekennzeichnet, die das private Leben ihrer Mitglieder rahmen und einbetten. Zum anderen jedoch sind sie mit geschäftlichen Anforderungen konfrontiert, denen sich klassische Familien nicht gegenüber sehen. Denn die Mitglieder von Unternehmerfamilien verfügen über unternehmerisches Eigentum, womit eine ganz besondere Verantwortung einhergeht. Daher können sich Unternehmerfamilien nicht nur eigendynamisch familiär entwickeln. Sie müssen sich zudem formal organisieren. Weiterlesen „System Compliance in Unternehmerfamilien“

Der nächste Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften

Der nächste Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften der Fachhochschule Potsdam

(Januar 2017)

Von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen wurde ich gebeten, meinen in der Zeit als Dekan gewonnenen Blick auf die aktuellen Herausforderungen und Perspektiven des Fachbereichs Sozial- und Bildungswissenschaften zu formulieren. Dies tue ich sehr gerne.

These

Ich stelle meinen Überlegungen die These voran, dass sich der Fachbereich derzeit in einem gravierenden Transformationsprozess befindet, der wie ein Epochenwandel empfunden werden kann und möglicherweise auch entsprechende Wirkungen zeitigt. Daher spreche ich davon, dass wir derzeit einen Aufbruch zu einem nächsten Fachbereich 1 erleben können. Weiterlesen „Der nächste Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften“

Das Erleben des Dekans

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Die neue Hochschule, Heft 2/2015, S. 58-61.

Das Erleben des Dekans

Dieser Beitrag ist ein Zwischenresümee meiner ersten 20 Monate in der Ausübung des Amtes als Dekan. Da sich Hochschulen hinsichtlich der Aufgaben, Herausforderungen, Chancen und Risiken hinsichtlich der Fachbereichs- oder Fakultätsleitungen wohl eher gleichen als unterscheiden, die Besonderheiten des Dekan/in-Amtes mit den Strukturen deutscher Hochschulen zusammenhängen, sind die Reflexionen für andere Dekaninnen und Dekane, grundsätzlich für alle Professorinnen und Professoren aufschlussreich. Weiterlesen „Das Erleben des Dekans“

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