Die Steuerung der Politik. Eine systemtheoretische Dekonstruktion

Erstveröffentlichung in: „Das Gepfefferte Ferkel. Online Zeitschrift für systemisches Denken und Handeln“, Oktober 2001.

Einleitung: Staatliche Steuerungsdefizite in der Gesellschaft

Staatliche Akteure und jene, die deren Handeln beobachten, beschreiben, erklären und bewerten, scheinen in der Mehrzahl davon auszugehen, dass gesellschaftliche Vorgänge objektiv-real und, wenn man so sagen darf: zentral-perspektivisch erkannt werden könnten sowie entsprechend bestimmter Steuerungsvorstellungen zielgerichtet beeinflussbar seien. Dies könnte man zumindest vermuten, wenn man betrachtet, mit welchen Begriffen staatliche Bestrebungen, gesellschaftliche Vorgänge zu steuern, in den letzten Jahrzehnten zunehmend umschrieben werden: etwa mit „Steuerkrise“, „überlasteter Staat“ oder „Staatsversagen“. Alle diese Begriffe markieren offensichtlich defizitäre (Ausnahme-) Erscheinungen, z.B. ‘Krisen’ bzw. ‘Überlastungen’, oder sie unterstellen dem Staat, dass er bezüglich seiner Steuerungsaufgaben ‘versagt’. Mit anderen Worten, der Staat schafft etwas nicht, was er eigentlich schaffen müsste: die Gesellschaft dermaßen zu steuern, dass beispielsweise zentrale Probleme – etwa Arbeitslosigkeit, wachsende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen, zunehmende Verarmung von breiten Bevölkerungsschichten (sprich: Abhängigkeit von Sozialhilfe) oder die ökologischen Gefährdungen – einer Lösung zugeführt werden können. 

Grundsätzlich wird offenbar davon ausgegangen, dass die Lösung der genannten Probleme vom Staat zu erfolgen hat. Und speziell eine Vorstellung, die von der Möglichkeit der zielgerichteten Steuerbarkeit der Gesellschaft durch den Staat ausgeht, kommt beim Scheitern dieser Steuerungsvorstellungen folgerichtig zu einer defizitären Sichtweise. Denn der Erfolg zielgerichteter Steuerung wird potentiell sozusagen als Norm(alfall) angenommen und der Nichterfolg dementsprechend als Abweichung verrechnet. Nur: Was passiert, wenn diese staatlichen Steuerungsdefizite nicht mehr als Ausnahme bewertet werden können? Was passiert, genauer gesagt, wenn das, was scheinbar als Normalfall gilt, nämlich die Möglichkeit, zielgerichtet staatlich zu steuern, zur Ausnahme wird und wenn als Ausnahme angenommene Situationen, in denen das Scheitern von staatlichen Steuerungsbestrebungen beobachtet werden kann, normal bzw. alltäglich werden?(1)

Eine Antwort auf diese Fragen könnte sein: das theoretische Werkzeug, welches Steuerung beschreibt, zu überprüfen und, wenn möglich, den sozialen Beobachtungen anzupassen. In diesem Sinne müssen also theoretische Erklärungen konstruiert werden, mit denen vorwissenschaftliche – z.B. von den Politikern oder anderen gesellschaftlichen Akteuren in den Medien geäußerte – Erfahrungen oder empirisch überprüfbare soziale Sachverhalte – z.B. wachsende Arbeitslosenzahlen, Kostenexplosionen in gesellschaftlichen Teilsystemen, Kriminalitätszuwachs u.ä. –, die das Scheitern bzw. die Grenzen staatlicher Steuerung belegen, wissenschaftlich hergeleitet werden können (2). 

Und genau dies soll im Folgenden mittels systemtheoretischer, insbesondere auf die Arbeiten der Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann und Helmut Willke basierender Argumentationslinien versucht werden. Es geht mir mit diesen Zeilen darum, meine (systemtheoretische) These zu plausibilisieren, dass es unwahrscheinlich ist, dass staatliche Steuerungsbestrebungen in der Art und Weise wirken, wie sie von den staatlichen Akteuren intendiert wurden. Um diese These zu belegen, werden zunächst in sehr geraffter Weise einige zentrale Vorstellungen der sozialwissenschaftlichen Theorie selbstreferentieller Systeme referiert, die mir als Grundlage für die weiteren Abschnitte der Arbeit wichtig erscheinen (I.). Im Anschluss daran soll jenes Steuerungsverständnis, welches aus klassischen, d.h. handlungstheoretischen Konzeptionen resultiert, mit seinen Erklärungsdefiziten konfrontiert werden, um im weiteren zu zeigen, welche Erkenntnisgewinne verbucht werden können, wenn Steuerung systemtheoretisch erklärt wird (II.). Warum es in der politikwissenschaftlichen Debatte brauchbar ist, staatliche Steuerung systemtheoretisch zu reflektieren, soll dann in einem Abschnitt über die primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft deutlich werden (III.). Schließlich werden sich die letzten beiden Abschnitte mit der Frage beschäftigen, wie aus systemtheoretischer Sichtweise staatliche Steuerung aussehen könnte und von welchem (modifizierten) Selbstverständnis die Politik in diesem Zusammenhang ausgehen müsste (IV., V.).

I. Systemtheoretische Grundlagen

Niklas Luhmann hat mit seinem Werk Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie den Paradigmenwechsel in der allgemeinen Systemtheorie auf die systemtheoretisch orientierten Sozialwissenschaften übertragen (vgl. Luhmann 1984, S. 15ff.). Das neue Paradigma in der allgemeinen, vor allem durch die Biologie und die Kybernetik inspirierten Systemtheorie besteht insbesondere darin, dass die theoretischen Leitdifferenzen wechseln und dass von systemischer Umweltoffenheit auf operative Geschlossenheit und Selbstreferenz umgeschaltet wird (vgl. ausführlich dazu ebd., S. 30ff.). 

Während in älteren Versionen der Systemtheorie von der bereits auf Aristoteles zurückgehenden (Leit-)Differenz Teil/Ganzes ausgegangen wurde, bildet in neueren systemtheoretischen Ansätzen die System/Umwelt-Unterscheidung den Ausgangspunkt aller weiteren Betrachtungen. Ein System wird daher als ein Zusammenhang von gleichartigen Operationen (biologischen Lebensprozessen bzw. psychischen Gedanken bzw. sozialen Kommunikationen) verstanden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Operationen abgrenzen bzw. unterscheiden (lassen). Dieser systemische Verweisungszusammenhang, der Operationen an Operationen desselben Typs anschließen lässt und damit ein System von seiner Umwelt – sozusagen durch zirkuläre Operativität – differenziert, wird als Selbstreferenz bezeichnet. 

Soziale Systeme – und vor allem diese werden in den folgenden Abschnitten die Referenzsysteme sein – operieren auf der Grundlage von Kommunikation (vgl. ebd., S. 191ff.). Mit anderen Worten, die Elemente von sozialen Systemen sind Kommunikationen und deren Zurechnung als Handlungen (vgl. ebd., S. 240). In dieser systemtheoretischen Sichtweise werden also nicht Menschen oder Individuen als Teile sozialer Systeme betrachtet, sondern lediglich deren Handlungen – vorausgesetzt diese finden an die sozialsystemischen Kommunikationsprozesse Anschluss (3). 

Erst durch Kommunikation erzeugte Sozialität ermöglicht (soziales) Handeln, das dann wiederum Kommunikation ermöglicht. Diese Zirkularität von Handlungs- und Kommunikationsprozessen kann sowohl auf der individuellen (handelnden) als auch auf der sozialen (kommunikativen) Seite interpunktiert werden. Während bei der Betrachtung der individuellen Ebene die psychischen Intentionen anvisiert werden können, die etwa einer spezifischen Handlung vorausgingen, lassen sich bei der Betrachtung der Kommunikation die ‘Wirkungen’ untersuchen, welche Handlungen in kommunikativen Prozessen zeitigen. 

Bei dem Vergleich der Resultate beider Betrachtungen wird dann nicht selten deutlich, dass Handlungsintentionen inkongruent mit den sozial beobachteten ‘Wirkungen’ sind und sich quasi hinter dem Rücken der Akteure in kommunikative Muster einbinden, die nicht individuell bzw. psychisch intendierten, sondern sozial-systemischen Regeln folgen (vgl. ausführlich dazu Willke 1994, der dies an Beispielen aus der Interventionspraxis von Psychotherapie [S. 92ff.], Organisationsberatung [S. 140ff.] und Politik [S. 211ff.] exemplifiziert) (4). 

Davon ausgehend, aber auch aus hier nicht näher darstellbaren, ausgesprochen abstrakt angelegten systemtheoretischen Argumentationslinien, lassen sich soziale Systeme als autopoietische Systeme beschreiben (vgl. ausführlich dazu: Luhmann 1984 oder Willke 1993). 

Mit Autopoiesis wird die selbstorganisierte Eigendynamik von komplexen Systemen umschrieben, die auf der Ebene ihrer basalen Operation, also für den Fall sozialer Systeme: auf der Ebene der Kommunikation, strukturdeterminiert sind. Mit anderen Worten, nur Kommunikation und nicht etwa psychisch intendiertes oder individuell zurechenbares bzw. zugerechnetes Handeln kann Kommunikation determinieren, d.h.: Kommunikation organisiert und steuert sich selbst. Damit werden die Kausalitäten an den Grenzen von psychischen und sozialen Systemen gewissermaßen gebrochen, so dass Bewusstsein und Kommunikation nicht in einem sich gegenseitig determinierenden Verhältnis zueinander stehen – obwohl sich selbstverständlich psychische und kommunikative Prozesse wechselseitig voraussetzen, systemtheoretisch gesprochen: interpenetrieren (vgl. Luhmann 1984, S. 286ff.) bzw. strukturell gekoppelt (vgl. Luhmann 1990, S. 11ff.) sind. Autopoiesis bezeichnet weiterhin die „Organisation der Operationen eines Systems, durch welche alle Elemente eines Systems durch die selektive Verknüpfung der Elemente dieses Systems erzeugt werden“ (Willke 1993, S. 278). Die Diskussion um die Möglichkeit von Steuerung wieder explizit aufgreifend, kann zusammenfassend formuliert werden: Der Begriff der Autopoiesis bringt auf den Punkt, dass ein System „in der Tiefenstruktur seiner Selbsteuerung von seiner Umwelt unabhängig ist“ (ebd.). Von diesem Aspekt geht denn auch der systemtheoretische Steuerungsbegriff aus und unterscheidet sich damit grundlegend von seinem handlungstheoretischen Pendant.

II. Steuerung

Um einem Verständnis der massenmedial reflektierten und empirisch belegbaren ‘Steuerungskrise’ des Staates näher zu kommen, sollen nun die Implikationen expliziert werden, die mit unterschiedlich – handlungs- und systemtheoretisch – gefassten Begriffen von Steuerung einhergehen. 

II.1 Handlungstheoretische Sichtweise 

Wenn von Steuerung die Rede ist, dann wird zunächst in traditioneller und mithin handlungstheoretischer Weise an eine Subjekt/Objekt-Dichotomie (vgl. Bardmann 1991, S. 14ff.) gedacht: Ein Subjekt, das kann auch ein kollektiver oder organisierter Akteur wie etwa der Staat sein, versucht entsprechend seinen Intentionen, ein von ihm erkanntes Objekt, das vielleicht irgendwie problematisch erscheint, zielgerichtet (handelnd) zu beeinflussen. Solange dieses Steuerungshandeln gelingt, d.h. solange die Wirkungen, die das steuernde Handeln verursachen soll, eintreten, scheint diese Sichtweise von Steuerung, die von linearen Ursache/Wirkungs-Ketten ausgeht, zu passen. Erst wenn das zu steuernde Objekt sich dem intentionalen Handeln der Akteure entzieht, indem es sich nicht wie geplant verändert, gerät die traditionelle handlungstheoretische Vorstellung von Steuerung ins Schwanken, und die aufrechten Planer bzw. Steuerer geraten ins Stolpern (vgl. mit Bezug auf organisatorische Planungsprozesse Vogel 1991). 

Wenn sich das steuernde Handeln auf Sozialsysteme bezieht, die, wie im letzten Abschnitt ausgeführt, als autopoietisch organisiert beschrieben werden können, dann kommen die Grenzen der Steuerung in den Blick. Derartige Systeme sind nämlich in der Regel, wie der Kybernetiker (zweiter Ordnung) Heinz von Foerster (1988) sagen würde: nicht-triviale und keine trivialen ‘Maschinen’. Nicht-Trivialität soll in diesem Zusammenhang heißen, dass ein soziales System – quasi wie eine ‘black-box’ – nach einer nicht von außen, nicht von individuellen Beobachtern erkennbaren komplexen Eigenlogik operiert. Diese komplexe Eigenlogik bewirkt beispielsweise, dass ein nicht-triviales autopoietisches Sozialsystem bei z.B. durch Handeln veränderten Umweltverhältnissen so viele verschiedene Zustände annehmen kann, dass eine Berechnung aller möglichen Zustände schon aus zeitlichen und auch aus kognitiven Gründen nicht realisierbar ist. 

Die bei Steuerungsbestrebungen bezüglich nicht-trivialer autopoietischer Sozialsysteme beobachtbaren Phänomene werden etwa als unerwartete und/oder unerwünschte Steuerungsnebenfolgen, als Vollzugsdefizite oder als sich zerstörende Prophezeiungen bezeichnet (vgl. Luhmann 1988, S. 329)(5). Wer die besten Steuerungsabsichten hat, so könnte man diese Probleme auf den Punkt bringen, muss nicht auch immer das Beste erreichen, sondern ganz im Gegenteil: Er kann den Zustand, den er entsprechend seinen Kriterien positiv verändern wollte, (entsprechend seiner Kriterien oder denen anderer) verschlimmern.

II.2 Systemtheoretische Sichtweise

Die systemtheoretische Beschreibung von Steuerung stellt zunächst einmal klar, dass es sich bei allen Steuerungsbestrebungen um Versuche handelt, eine beobachtete Differenz zu minimieren (vgl. Luhmann 1988, S. 328). In diesem Sinne sollen, präzise gesagt, Sinndifferenzen minimiert bzw. verringert werden, z.B. die Ungleichheit von Mann und Frau, das Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die Unterschiedlichkeit von Stadt und Land, die Differenzen von arm und reich, gesund und krank, gebildet und ungebildet etc. (vgl. Bardmann 1991, S. 17). 

Entgegen dem handlungstheoretischen Ansatz von Steuerung begreift die Systemtheorie das Steuern allerdings nicht im Sinne einer Subjekt/Objekt-Dichotomie. Obwohl Subjekte bzw. kollektive oder organisierte Akteure beobachten können, ob die Differenz, die sie minimieren wollten, auch minimiert wurde, können sie systemtheoretisch gesehen kein von ihnen gesondertes Objekt steuern. Vielmehr muss ihr steuerndes Handeln zum Teil des Objektes, besser gesagt: zum Teil des Prozesses (z.B. des nicht-trivialen autopoietischen Sozialsystems) werden, der gesteuert werden soll; nur dann kann es Wirkungen zeitigen (vgl. Bardmann, S. 14ff); wobei es allerdings unwahrscheinlich ist, dass diese Wirkungen jene sind, die von den steuernden Akteuren intendiert wurden. Mit anderen Worten, zwar kann das steuernde Handeln auf Personen zugerechnet werden, die von bestimmten Steuerungsintentionen ausgehen, seine Wirkung wird aber nicht durch personale Intentionen bestimmt, sondern durch die autopoietische Struktur und Dynamik der zu steuernden systemischen Prozesse selbst. Damit kann Steuerung genaugenommen nur Selbststeuerung sein; denn, wie im ersten Abschnitt bereits angeschnitten: die ursprünglichen Handlungen der personalen, kollektiven oder organisierten Akteure lösen sich im sozialen kommunikativen Kontext von deren Intentionen und können nur dann im (zu steuernden) Prozess etwas bewirken, wenn sie an dessen interner (kommunikativer) Dynamik anschließen.

Systemtheoretisch wird der Steuerungsbegriff also nicht (allein) mit Blick auf die steuernden Akteure hergeleitet, sondern vielmehr erweitert sich die Betrachtung, indem die Referenz eines selbstreferentiellen Systems zur Beobachtung gewählt wird, dessen Operationen nicht von außen determinierbar sind. Wie sich eine derartige abstrakte systemtheoretische Beschreibung, die scheinbar ein brauchbareres Beschreibungspotential von Steuerung als die handlungstheoretische Sichtweise entwickelt, weil sie die Genese der Steuerungsnebenfolgen erklären kann, mithin externe Steuerung als gänzlich unwahrscheinlich betrachtet, auf konkrete staats- und gesellschaftstheoretische Steuerungsfragen beziehen lässt, soll im nächsten Abschnitt Thema sein.

III. Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft – oder: Externe Unsteuerbarkeit gesellschaftlicher Funktionssysteme

Ein zentraler Aspekt, der in allen gesellschaftstheoretisch orientierten Arbeiten der systemtheoretischen Soziologie bzw. Sozialwissenschaft immer wieder problematisiert wird, ist die Kennzeichnung der modernen Gesellschaft als primär funktional ausdifferenziert (siehe etwa Bardmann 1991; Luhmann 1986, 1988, 1997; Mayntz u.a. 1988; Rosewitz/Schimank 1988; Willke 1989, 1992, 1993, 1994, 1995a,b). Funktionale Differenzierung unterscheidet sich von anderen, konkret: segmentären und stratifikatorischen Formen sozialer Differenzierung der Gesellschaft; die letztgenannten Differenzierungsformen waren in vormodernen Gesellschaften prägend; diese lassen sich entweder als (segmentär) in Stämme, Clans oder Familienverbände oder als (stratifikatorisch) in Schichten gegliedert beschreiben.

Die funktionale Differenzierung als primäre Differenzierungstypik der modernen Gesellschaft wird bereits durch den Begriff der ‘gesellschaftlichen Arbeitsteilung’ angedeutet. So hat etwa Max Weber die Spezifik der kapitalistischen Gesellschaftsformation, die auf dem Prinzip der ‘Rationalität’ gründe, herausgearbeitet (vgl. Willke 1989, S. 33). Die Rationalität, insbesondere die Zweckrationalität, deren Entwicklung mit der gesellschaftlichen Etablierung der protestantisch-calvinistischen Ethik einherging, verdrängte die traditionelle Wertrationalität und ermöglichte damit den Wandel der gesamten Gesellschaft. Nicht nur die Ökonomie konnte nun fast ungehindert ihre Eigendynamik entfalten, sondern auch gesellschaftliche Bereiche wie Wissenschaft, Erziehung, Religion, Familie oder Politik.

Funktionale Differenzierung verweist dementsprechend darauf, dass sich die Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme gliedert, die jeweils nach eigenen Kriterien, wenn man so will: nach eigenen Rationalitäten, ganz konkrete gesamtgesellschaftliche Funktionen ausführen, für die es keine anderen gesellschaftlichen Bearbeitungsmöglichkeiten gibt als die jeweils spezifisch funktionssystemischen. Jedes Funktionssystem operiert als nichttriviales autopoietisches Sozialsystem; womit sich jeweils funktionssystemspezifische Eigendynamiken herausbilden, die mittels binärer Codes und den dazugehörigen Kommunikationsmedien realisiert werden (6).

So geht es etwa in der Wirtschaft um die eindeutig zu entscheidende Frage, kann gezahlt werden oder nicht, im Rechtssystem um die Differenz von Recht und Unrecht, in der Wissenschaft um Wahrheit oder Unwahrheit von Erkenntnissen und in der Politik um die Macht (Regierung) oder Ohnmacht (Opposition), kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.

Neben der gesamtgesellschaftlichen Funktion, die Funktionssysteme wahrnehmen, sowie ihrer binären Codierung, die ihre interne Kommunikation sortiert, lässt sich das Modell der Autopoiesis bzw. der operativen Schließung heranziehen, um drei Aspekte auf den Punkt zu bringen – erstens:dass wirtschaftliche, rechtliche, wissenschaftliche oder politische Operationen eben nur in den jeweiligen Funktionssystemen Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Politik vorkommen und sonst nirgendwo in der Gesellschaft; zweitens: dass diese Operationen immer nur an andere Operationen des gleichen Typs anschließen können, die permanent neu hervorgebracht werden müssen, damit sich die Systeme kontinuieren können und drittens: dass die Dynamik der Funktionssysteme auch nur durch eigene Operationen determiniert werden kann.

Aus der These der funktional differenzierten Gesellschaft lassen sich wiederum drei – diesmal gesellschaftstheoretische – Aspekte bzw. Schlussfolgerungen ableiten. Erstens: Die exklusive Bearbeitung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben durch Funktionssysteme macht diese autonom bzw. immun gegenüber funktionssystemfremden Einflussfaktoren, d.h. die Systeme ‘verselbständigen’ sich (vgl. Mayntz u.a. 1988) bzw. werden unabhängig. Dieses Phänomen wird auch mit dem Begriff der Independenz bezeichnet. Zweitens: Die gesellschaftlichen Funktionssysteme sind jeweils aufeinander angewiesen, denn keines kann Funktionen eines anderen wahrnehmen; dieser Aspekt umschreibt die Steigerung der funktionssystemischen Interdependenzen (7).

Drittens: Es gibt keine Möglichkeit der gesellschaftlichen Reflexion außerhalb der Funktionssysteme. Damit lässt sich in der modernen Gesellschaft kein Zentrum oder keine Spitze mehr denken, die das gesamte System sozusagen überblicken oder steuern könnte (8).

Die moderne Gesellschaft erscheint als heterarchisch bzw. polyzentrisch organisiert (vgl. Willke 1992) – polyzentrisch organisiert deshalb, weil in jedem Funktionssystem die eigene Perspektive gewissermaßen als die zentrale gesellschaftliche Perspektive gelten kann. Denn kein Funktionssystem kann beobachten, wie die anderen Funktionssysteme die Gesellschaft beobachten; es bleibt auf seine eigenen Beobachtungen (9) angewiesen. 

So erscheinen gesellschaftliche Zustände in jedem Funktionssystem auf jeweils spezifische Weise – um einige Beispiele von Theodor M. Bardmann (1991, S. 24) zu zitieren: „der Rosenkauf steht in der Wirtschaft für eine Geldzahlung und in Intimbeziehungen für einen Liebesbeweis; die Rede des Kanzlers bedeutet in der Politik Wählerstimmenverlust (oder – gewinn) und im Bereich der Massenmedien vielleicht ein unterhaltsames Kuriosum; eine Aussage kann in der Religion als Gotteslästerung und in der Wissenschaft als nachprüfbare Wahrheit behandelt werden“. Eine diese verschiedenen Beschreibungen transzendierende Beschreibung auf einer den Funktionssystemen übergeordneten Ebene der Gesellschaft lässt sich systemtheoretisch gesehen nicht mehr erkennen.

Davon ausgehend kann formuliert werden, dass die Möglichkeit einer staatlichen Steuerung der Gesellschaft, verstanden im Sinne der handlungstheoretischen Beschreibung, schon deshalb problematisch ist, weil auch der Staat nicht ein zentraler oder hierarchisch über andere Funktionssysteme angeordneter Akteur sein kann. Auch der Staat befindet sich nicht als handlungsfähiger kollektiver oder organisierter Akteur außerhalb der Gesellschaft. Aber was ist systemtheoretisch gesehen der Staat überhaupt? Welchen Platz hat dieser in der Theorie funktionaler Differenzierung, die zwar von einem politischen Funktionssystem spricht, aber nicht von einem staatlichen?

III.1 Zum Verhältnis von Staat und Politik

Zunächst sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Politik in der systemtheoretischen Betrachtung als ein gesellschaftlich ausdifferenziertes Funktionssystem beschrieben wird, in dem Kommunikationen in der Form von kollektiv verbindlichen Entscheidungen produziert und prozessiert werden – „z.B. Entscheidungen darüber, wer in einer Gesellschaft unter welchen Bedingungen physische Gewalt ausüben und wer unter welchen Bedingungen staatliche Gewalt für seine privaten Zwecke einsetzen darf“ (Willke 1996, S. 686).

Genauso wenig wie die Politik in der systemtheoretischen Betrachtung in externer Unterscheidung zur Gesellschaft gedacht wird, ist in diesem Sinne der Staat als ‘Subjekt’ denkbar, das dem ‘Objekt’ Gesellschaft (hierarchisch auf einer höheren Stufe) gegenübersteht. Vielmehr wird der Staat in die Gesellschaft, genauer: in das politische System hineingeholt und dient diesem (intern) als Modell zu dessen Selbstbeschreibung (vgl. Luhmann 1980; Willke 1992, S. 213; 1996, S. 687) und den anderen Funktionssystemen oder ‘lebensweltlichen’ Kommunikationen als (externe) Möglichkeit, politische Entscheidungen auf handelnde Akteure zuzurechnen (Willke 1992, S. 213; 1996, S. 687).

Bezüglich der ersten Funktion des Staates als ein Konstrukt zur Selbstbeschreibung der Politik in Form von verschiedenen Modellen können dann Staatsformen wie absolutistischer Staat, liberalistischer (‘Nachtwächter’-)Staat, Verfassungsstaat, Interventionsstaat oder Wohlfahrtsstaat unterschieden werden. Diese unterschiedlichen Modelle des Staates kennzeichnen die Organisation des Treffens kollektiv verbindlicher Entscheidungen sowie die Form der Selbstlegitimation von Politik. Die Frage der (Selbst-) Legitimation von Politik und damit von Macht trat mit dem Zerfallen der Vorstellung einer von Gott gegebenen Herrschaft auf die Tagesordnung. Eine Antwort waren die klassischen Vertragstheorien nach Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau, die allerdings die Regeln, nach denen Politik gemacht werden soll, noch nicht legitimieren konnten (10).

Die Legitimation der politischen Regeln ließ sich erst durch eine Binnendifferenzierung des politischen Systems realisieren (11), und zwar in einen Bereich, der die kollektiv verbindlichen Entscheidungen produziert: das Parlament und die Regierung; in einen Bereich, der diese Entscheidungen zur Anwendung bringt: die öffentliche Verwaltung; und schließlich in einen Bereich, der auf die Konflikte, welche aus diesen Entscheidungen und deren Anwendung resultieren, reagiert: das Rechtssystem.

Mit dieser Binnendifferenzierung wurde ein zirkulärer Prozess der Legitimation der politischen Herrschaft etabliert: „Die Politik legitimiert das Recht, das Recht legitimiert das Handeln der Verwaltung und der Bürger, die Bürger legitimieren die Politik usw.“ (Willke 1996, S. 687f.).

Die zweite (politische) Funktion des Staates, die aus der Notwendigkeit der Zurechnungsmöglichkeit von kollektiv bindenden Entscheidungen auf handelnde Akteure folgt, markiert, dass Personen, kollektive oder handelnde Akteure für politische Entscheidungen verantwortlich gemacht werden können. Nur so kann trotz der Ausdifferenzierung eines politischen Systems, das mittels dem symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium Macht autopoietisch, also unabhängig, eigendynamisch, strukturdeterminiert, wenn man so will: ‘entfremdet’ von den Menschen operiert, das Netz der Kommunikationen zerschnitten und etwa eine politische Entscheidung auf eine Person oder eine Organisation zugerechnet werden. In dieser Hinsicht ist es allerdings, dies sei nebenbei betont, eher ineffektiv, nach Schuldigen für gesellschaftliche Steuerungsdefizite oder Zustände zu suchen, die als ‘Missstände’ bewertet werden. Denn bei der Identifizierung von Schuld wird die Komplexität eines sozialen Prozesses, der niemals einseitig individuell determinierbar ist, so reduziert, dass möglicherweise die Vernetzungen und gegenseitigen Abhängigkeiten ‘ganzheitlicher’ Zusammenhänge aus dem Blick geraten. Veränderungen, so scheint es jedenfalls durch die systemtheoretische Brille auszusehen, lassen sich nicht durch die Suche nach Schuldigen und dem damit möglicherweise einhergehenden Auswechseln von Personen realisieren, sondern nur durch strukturelle, sozial-systemisch angesetzte Interventionen (vgl. ausführlich dazu Willke 1994).

Zusammenfassend lässt sich mit Willke (1996, S. 688) sagen: „Der Staat ist eine Hilfskonstruktion der Politik, wenngleich eine folgenreiche. Funktionen des Staates verweisen auf primäre Funktionen der Politik in einer Gesellschaft“. Eine primäre Funktion der Politik scheint nun auch der Versuch zu sein, in gesellschaftliche Prozesse staatlich steuernd einzugreifen, um etwa das Problem der Gewalt, das Problem der Armut und das Problem der Ignoranz, d.h. des Umgangs mit gesellschaftlich notwendigem Wissen zu bearbeiten (vgl. Willke 1992, S. 211ff.; 1996, S. 688ff.) (12). 

Wenn aber die Politik als gesellschaftliches Funktionssystem vorgestellt wird, das – wie alle anderen Funktionssysteme ebenso – eigendynamisch operiert, wodurch nicht zuletzt Steuerungsintentionen an den funktionssystemischen Grenzen abprallen, wie ist dann in systemtheoretischer Sicht gesellschaftliche Steuerung und Regulierung überhaupt noch denkbar? Dieser Frage möchte ich mich im nächsten Abschnitt zuwenden.

VI. Systemtheoretische Steuerungsmodelle

Wenn wir uns nun auf dem Hintergrund des bereits Referierten noch einmal die systemtheoretische Vorstellung von Steuerung vor Augen halten, dass also Steuerung nur möglich ist, wenn das steuernde Handeln selbst zum Teil des Systems wird, das gesteuert werden soll, dann lässt sich zunächst formulieren: Gesellschaftliche Steuerung ist nur als Selbststeuerung der Funktionssysteme möglich. Funktionssysteme reagieren zwar auf Veränderungen in ihrer sozialen Umwelt, in denen die jeweils anderen Funktionssysteme operieren, aber auf selbstkonstituierte, sozusagen system- und nicht umweltkausale Weise. Diesen Aspekt betont denn auch vor allem Luhmann (1986 oder 1988, S. 324ff.), wenn er die Grenzen der gesellschaftlichen Steuerung herausstellt, die sich insbesondere mit der Autopoiesis der Funktionssysteme beschreiben lassen.

Was allerdings aus dieser gesellschaftstheoretischen Diagnose für die staatlichen Steuerungsprogramme der Politik folgt, die sich ja aus den originären Aufgaben des Staates ergeben, der die Bürger, wie Willke (1992, S. 211ff.; 1996, S. 688ff.) ausführt, vor systemisch, mithin nicht individuell bedingten „Gefährdungen von Leib und Leben“ (Willke 1996, S. 704) zu schützen hat, lässt Luhmann weitgehend offen. Dennoch erwähnt er eher am Rande einen wesentlichen Aspekt der Möglichkeit von staatlicher Beeinflussung der Funktionssysteme: Die Politik könnte nämlich über die Schaffung von Bedingungen, die sich auf die Programme und damit auf die Selbststeuerung der Funktionssysteme auswirken, indirekt versuchen zu steuern (vgl. Luhmann 1988, S. 346). Speziell an diesem Punkt lassen sich Willkes Konzepte der dezentralen Kontextsteuerung anschließen. Wie im Folgenden deutlich werden könnte, scheint Willke die Intention zu haben, die gesellschaftstheoretischen Beschreibungsmöglichkeiten der Systemtheorie nicht nur diagnostisch, sondern auch pragmatisch, wenn man so will: therapeutisch relevant einzusetzen. Denn für ihn lässt sich mittels systemtheoretischer Analysen brauchbar auf die neuen Herausforderungen des heutigen Staates reagieren. Diesbezüglich schlägt Willke sozusagen einen dritten Weg von staatlicher Steuerung vor, der sich weder an das ‘Laisserfaire’ des sogenannten Nachtwächter-Staates noch an die autoritative Vorstellung einer staatlichen Gesamtplanung anschließt (vgl. Willke 1992, S. 310ff; 1995a, S. 3; 1996, S. 705): die dezentrale Kontextsteuerung

Kontextsteuerung bedeutet zunächst zweierlei: zum einen „die reflexive, dezentrale Steuerung der Kontextbedingungen aller Teilsysteme“ (Willke 1989, S. 58) und zum anderen „die selbstreferentielle Selbststeuerung jedes einzelnen Teilsystems“ (ebd.). Gerade die Politik hätte diesbezüglich ein Staatsverständnis zu entwickeln, das derartige Steuerungen ermöglicht und nutzt. Kontextsteuerung kann beschrieben werden als die Veränderung bzw. Beeinflussung von relevanten Umweltfaktoren der Funktionssysteme, um diese hinsichtlich ihrer Selbststeuerung zu beeinflussen, beispielsweise lässt sich eine derartige Steuerung schon über die Regelung der finanziellen Zuwendungen für die Funktionssysteme realisieren.

Bevor ich auf die spezifische Form der dezentralen Kontextsteuerung nach Willke eingehe (VI.2), möchte ich eine bedeutende Möglichkeit nennen, die ebenfalls über die Veränderung der Umweltbedingungen der Funktionssysteme auf diese wenn nicht steuernd, dann aber doch auf jeden Fall beeinflussend wirken kann: die staatlich gesteuerte Verringerung oder Erhöhung der finanziellen Zuwendungen für funktionssystemische Aufgaben (z.B. im Erziehungs- und Gesundheitssystem oder im System sozialer Hilfe) (vgl. mit Bezug auf Luhmann Rosewitz/Schimank 1988, S. 301f.).

VI.1 Geld als Mittel kontextueller Steuerung

Alle Funktionssysteme sind darauf angewiesen, „Geld gleichsam als ‘Energie’ zu verbrauchen“ (ebd.), so dass jedes Teilsystem mit jedem anderen um die knappen finanziellen Ressourcen konkurriert. Dementsprechend hat die staatlich gesteuerte Verringerung oder Erhöhung der finanziellen Zuwendungen auf die Realisierung der Programme von Organisationen, die sich bestimmten Funktionssystemen zurechnen, einen entscheidenden Einfluss. Allerdings lässt die Steuerung über die Regelung der finanziellen Zuwendungen zugleich auch große Schwächen sichtbar werden; sie beeinflusst die Funktionssysteme nämlich nur quantitativ und niemals qualitativ und kann nicht konkret darauf einwirken, wie funktionssystemintern mit dem Sachverhalt der veränderten Geldmenge umgegangen wird.

VI.2 Dezentrale Kontextsteuerung

Eine weitaus ausgereiftere Form der Kontextsteuerung als jene über Geld schlägt Willke mit der dezentralen Kontextsteuerung vor (vgl. etwa Willke 1992, S. 57ff./127ff.). Dezentrale Kontextsteuerung macht sozusagen aus der Not der funktionalen Differenzierung und Verselbständigung, die keine staatliche Spitze oder kein politisches Zentrum der Gesellschaft mehr zulässt, in dem eine verbindliche gesamtgesellschaftliche Reflexion und mithin Planung möglich wäre, eine Tugend: die Tugend einer wechselseitigen Abstimmung, eines Diskurses der Funktionssysteme untereinander, mit dem Ziel, sich jeweils mit dem Blick auf die Funktionsweise der anderen selbst zu steuern. Damit wird zunächst einmal der Politik die alleinige Verantwortung für gesellschaftliche Steuerung genommen; denn diese überfordert sich – was systemtheoretisch sehr plausibel sichtbar wird – permanent selbst (vgl. Luhmann 1980, S. 289), so dass in der öffentlichen Meinung dann Begriffe wie ‘Unregierbarkeit’, ‘Legitimationskrise’, ‘Steuerkrise’, ‘Staatsversagen’ etc. diesen Sachverhalt beschreiben.

Bei der dezentralen Kontextsteuerung kann die Politik nicht viel mehr steuern als ihre eigene Funktionsweise als Kontextbedingung für die anderen Funktionssysteme. Ein Instrument dafür ist z.B. das sogenannte ‘reflexive Recht’ (vgl. Willke 1992, S. 53; Rosewitz/Schimank 1988, S. 303ff.). Bernd Rosewitz und Uwe Schimank (1988, S. 303) sehen die Aufgabe des reflexiven Rechts zunächst in einem Verzicht der staatlichen Rechtssetzungen, „substantielle Entscheidungskriterien für die Regulierung gesellschaftlicher Konflikte bereitzustellen“. Die Lücke, die durch den Verzicht von staatlich-administrativ vorgegebenen Entscheidungskriterien entsteht, soll durch die Schaffung von Verhandlungssystemen und -verfahren aufgefüllt werden, „in deren Rahmen dann die betreffenden gesellschaftlichen Teilsysteme ihre Konflikte autonom regulieren“ (ebd.) (13). 

Gesellschaftstheoretisch abstrakt formuliert: Das reflexive Recht soll gewährleisten, dass die zentrifugale Dynamik gesellschaftlicher Differenzierung sich nicht derart zuspitzt, dass die gesellschaftliche Integration der Subsysteme, die für den Erhalt der Gesellschaft notwendig ist, vollends gesprengt wird. Reflexives Recht zielt also darauf ab, dass die Rationalität der Teile, d.h. der Funktionssysteme nicht zu einer destruktiven Irrationalität des Ganzen, also der Gesellschaft pervertiert. Ohne eine Entdifferenzierung der Gesellschaft zu intendieren, sondern im Gegenteil: die Ressourcen der gesellschaftlichen Differenzierung ausnutzend, ist reflexives Recht als System von Rahmenregeln zu verstehen, für dessen Schaffung das politische System zuständig ist und das die Abarbeitung interfunktionssystemischer Konflikte mit einer Reflexion auf die Systemintegration verbindet.

Beispiele für die Anwendung von reflexivem Recht wären die Tarifautonomie im Wirtschaftssystem oder der Wissenschaftsrat, in dem sich Vertreter des Wissenschafts-, Wirtschafts- und Politiksystems begegnen und ihre Konflikte ohne zentrale staatliche Kontrolle, aber entsprechend bestimmter rechtlich fixierter Verhandlungsmuster zu regeln versuchen (vgl. Rosewitz/Schimank 1988, S. 303). Des weiteren gilt eine bestimmte Beziehung des Rechtssystems zum Wissenschaftssystem als Beispiel: Immer wenn in Fragen der Technik und Wissenschaft oder der Erziehung (‘Wohl des Kindes’) gutachterlicher Sachverstand der Experten vom Gericht herangezogen wird, um Recht zu sprechen, kommt es zu einer wechselseitigen Abstimmung von Funktionssystemen (vgl. Willke 1992, S. 330f.). Diese wechselseitige Abstimmung tastet die funktionssystemische Autonomie nicht an; denn nicht die wissenschaftlichen Experten sprechen Recht, sondern nach wie vor die Gerichte. Vielmehr führt dieses Verfahren zur Selbstdistanz der jeweiligen Akteure und zum Versuch, sich in die jeweilige funktionssystemische Rolle des anderen hineinzuversetzen. 

Zusammenfassend kann formuliert werden, dass die dezentrale Kontextsteuerung der Versuch ist, die funktionale Differenzierung nicht zu minimieren, sondern ihre Chancen zu nutzen, allerdings mit dem Ziel der Erhöhung der Reflexivität der Funktionssysteme, um ihre Selbststeuerungskapazitäten zu maximieren. Denn die Möglichkeit der Selbststeuerung ist eine Voraussetzung für die Anwendung des reflexiven Rechts, so dass der folgende Aspekt, die reflexive Selbststeuerung der Funktionssysteme, eigentlich mit einer erfolgreichen Anwendung reflexiven Rechts einhergehen muss.

VI.3 Reflexive Selbststeuerung der Funktionssysteme

Die reflexive Selbststeuerung wurde bereits von Luhmann vorgeschlagen, der in seinem Werk Soziale Systeme darauf eingeht, dass ein Funktionssystem, das sich rational verhalten will, die Reaktionen, die es bei anderen Funktionssystemen auslöst, mit zu beobachten hat, indem es nämlich „seine Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf es selbst kontrollieren muss“ (Luhmann 1984, S. 642; vgl. auch Rosewitz/Schimank 1988, S. 302). Die Rationalität der Selbststeuerung der Funktionssysteme besteht also darin, dass diese mitreflektieren, dass ihre Unabhängigkeit von den anderen Funktionssystemen den paradoxen Effekt hat, zugleich ihre Abhängigkeit von diesen zu steigern (siehe Abschnitt III). Da jedes Funktionssystem sich auf die Bearbeitung nur eines ganz bestimmten gesellschaftlichen Problems spezialisiert hat – z.B. der Produktion von Gütern bzw. Regulierung von Knappheit (Wirtschaftssystem), der Erziehung von Kindern (Erziehungssystem), der Heilung von Kranken (Gesundheitssystem), der Betreuung von sozial Benachteiligten (System Soziale Hilfe/Arbeit), der Sprechung von Recht (Rechtssystem) oder der Produktion von kollektiv bindenden Entscheidungen (Politiksystem) – ist die Funktionsfähigkeit jedes einzelnen Funktionssystems davon abhängig, dass auch die anderen funktionsfähig sind. Mit anderen Worten, die Funktion eines gesellschaftlichen Teilsystems ist nur erfüllbar, wenn auf Leistungen der anderen Teilsysteme zurückgegriffen werden kann.

Reflexive und mithin rationale Selbststeuerung würde also heißen, dass die Funktionssysteme mit dem Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit ihres eigenen Funktionierens die Sicherung der Funktionsweise der anderen Systeme ebenfalls beachten (vgl. Willke 1992: S. 120ff.). Sie machen ihre eigenen Entscheidungen in diesem Sinne nicht nur von selbstreferentiellen Kriterien abhängig, sondern sie öffnen sich für fremdreferentielle Einflussgrößen ihrer gesellschaftlichen Umwelt. 

Beispielsweise könnte diesbezüglich an eine Reflexion auf fremdreferentielle Bedingungsfaktoren für die Produktion von Wissen innerhalb des Wissenschaftssystems gedacht werden (vgl. Rosewitz/Schimank 1988, S. 302f.). In Anbetracht der Tatsache, dass Wissenschaft von Geld abhängig ist, das vom Wirtschaftssystem (in der Regel über den Umweg staatlicher Zuwendungen, die aus den Steuereinnahmen resultieren) in das Wissenschaftssystem transferiert wird, wäre es für wissenschaftliche Forschung rational, sich stärker auf außerwissenschaftliche, in diesem Falle: ökonomisch relevante Nutzkriterien einzulassen. Denn schließlich ist die Funktionsfähigkeit der Wissenschaft trotz ihrer autopoietischen Organisation, trotz „Freiheit von Forschung und Lehre“, auf die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft der Gesellschaft, da sie deren finanzielle Leistungen benötigt, angewiesen. Sicherlich ließen sich viele weitere Beispiele finden, die die funktionale Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche bei gleichzeitiger wechselseitiger leistungsbezogener Heteronomie belegen und diesbezüglich eine reflexive Selbststeuerung herausfordern. Ohne in diesem Zusammenhang auf weitere Beispiele eingehen zu können, die Selbststeuerungskapazitäten von Funktionssystemen untersuchen bzw. belegen (siehe dazu Rosewitz/Schimank 1988, S. 304ff.), möchte ich die Spezifik der reflexiven Selbststeuerung noch einmal explizit auf den Punkt bringen.

VI.4 Zusammenfassung: Selbststeuerung der Selbststeuerung

Wenn die Selbststeuerung der Funktionssysteme reflexiv wird, dann handelt es sich um eine Selbststeuerung ihrer Selbststeuerung; denn es wird funktionssystemintern versucht, die eigene Steuerung auf einen ganz bestimmten Fokus auszurichten: auf die jeweils selbstreferentiell-funktionssystemische Abhängigkeit von fremdreferentiellen Bedingungsfaktoren. Wenn eine derartige Selbststeuerung gelingen würde, wäre der Staat bezüglich seiner Steuerungsintentionen entlastet. Er könnte sich im Hinblick auf die Steuerung der gesellschaftlichen Teilsysteme zurückziehen, da diese sozusagen selbststeuernd und in Eigenregie wechselseitige Abstimmungen vornehmen, die die Vernetzung der differenzierten Teile im Auge behalten und damit die Integration der Gesellschaft trotz hochgradiger Differenzierung gewährleisten. So ließe sich schließlich zusammenfassen, dass – systemtheoretisch gesehen – die Realisierung von staatlichen Steuerungsbestrebungen zwar unwahrscheinlich ist, aber nicht gesellschaftliche Steuerung als solche; denn diese ist jeweils funktionssystemisch, also heterarchisch und möglicherweise auch interfunktionssystemisch möglich und nötig.

Schlußbetrachtung: Die Rolle des Staates in der postmodernen Gesellschaft

Ich habe versucht, die These systemtheoretisch zu belegen, dass es unwahrscheinlich ist, dass staatliche Steuerungsintentionen in der Art und Weise wirken, wie es von den staatlichen Akteuren intendiert wurde. Darüber hinaus sollte deutlich werden, welche alternativen Vorstellungen von einer systemtheoretischen Steuerungs- und/oder Staatstheorie vorgeschlagen werden, um gesellschaftliche Prozesse zu regulieren. Abschließend soll versucht werden, die zentralen Aspekte einer systemtheoretischen Staatstheorie zusammenfassend zu explizieren.

Der Staat, der dem politischen System als Form seiner Selbstbeschreibung und demselben sowie anderen Funktionssystemen oder ‘lebensweltlichen’ Kommunikationen als Zurechungsinstanz für kollektiv verbindliche Entscheidungen dient, hätte aus der systemtheoretischen Perspektive drei politisch realisierbare Funktionen – erstens: Anleitung zur Selbststeuerung der Funktionssysteme; zweitens: kontextuelle Kontrolle und drittens: Definition des öffentlichen Interesses (Willke 1996, S. 706). Diese drei Aufgaben umschreiben zunächst einmal jenes, was ich in den Abschnitten dieser Arbeit im einzelnen ausgeführt habe, nämlich, dass das politische System in einer funktional differenzierten Gesellschaft an die Grenzen seiner Steuerungsmöglichkeiten stößt und deshalb nur dafür sorgen kann, dass die Funktionssysteme sich in bestimmten kontextuellen, staatlich juristisch vorkonstruierten Rahmen selbst steuern. Was die Politik darüber hinaus im Kontext der anderen Funktionssysteme insbesondere bieten kann, „ist eine Entscheidungsleistung: nämlich die Definition des ‘öffentlichen Interesses’ hinsichtlich einer zum politischen Problem gewordenen Frage“ (Willke 1996, S. 707). Diesbezüglich bringt die Politik also bestimmte öffentlich relevante Fragen wie Arbeitslosigkeit, ökologische Gefährdungen, Gewalt etc. in den Diskurs der Funktionssysteme und versucht etwa mittels Schaffung rechtlicher Verfahren, adäquate Reaktionsweisen der Funktionssysteme auf diese Probleme herauszufordern.

Nach Willke (1989; 1992; 1996) wäre die Funktion des Staates in funktional differenzierten Gesellschaften trotz zunehmender Staatsaufgaben bezüglich des Auftretens immer neuer Risiken und Gefährdungen für die Bürger eine bescheidenere als es sowohl in traditionellen (z.B. konservativen oder marxistischen) als auch in aktuell diskutierten Staatstheorien angedacht ist (14). 

Wie jedoch die Bescheidenheit der Politik bezüglich steuernder Interventionen durch konkret realisierbare dezentrale, kontextuelle, funktionssystemisch selbststeuernde Konzepte kompensiert werden soll, bedarf in der Zukunft wohl noch einer umfangreichen sozialwissenschaftlichen Diskussion. Auch wenn das mittlerweile normal gewordene Scheitern politischer Steuerungsintentionen konstatiert und systemtheoretisch erklärt werden kann, heißt das nicht zwangsläufig, dass gesellschaftliche Steuerung an sich unmöglich oder unnötig geworden ist. Vielmehr stellt sich die Frage, wie staatliche Aufgaben – z.B. bezüglich der Probleme der Gewalt, der Armut und der Ignoranz (siehe Abschnitt III.1) – erfolgversprechender als bisher gelöst werden können.

Einen Ansatzpunkt dafür sieht Willke (1995b), das sei hier lediglich kurz erwähnt, in einer „Transformation der Demokratie als Steuerungsmodell hochkomplexer Gesellschaften“. Um nur einen Aspekt herauszugreifen, beschreibt er, wie die enge Verzahnung von Demokratie und Hierarchie gelöst wird, wenn sich Akteursnetzwerke und Verhandlungssysteme „an den Grenzflächen von Demokratie und Hierarchie“ (ebd., S. 297) einnisten. Besonders durch eine temporäre Etablierung von Verhandlungssystemen, die gesellschaftliche Akteure für einen Problemkontext zusammenbringen und vernetzte Entscheidungsstrukturen ermöglichen (vgl. ebd., S. 288), könnte Heterarchie als Steuerungs- bzw. Koordinationsprinzip getestet und/oder eingeführt werden. Im Kontext einer heterarchischen gesellschaftlichen Differenzierung und Selbstorganisation wären derartige vernetzte Entscheidungsstrukturen möglicherweise passender als jene hierarchischen, die in (demokratischen) Ministerien, Bürokratien oder Ämtern beobachtet werden können.

In den praktisch relevanten Schlussfolgerungen, die aus der systemtheoretischen Steuerungstheorie abgeleitet werden können, geht es um die Prüfung von Möglichkeiten, wie trotz Autonomie und Eigeninteressen der konkreten Akteure dennoch – auch bezüglich gemeinwohlorientierter Lösungen (vgl. ebd., S. 297ff.) – gegenseitige Koordination möglich ist. So schließe ich meine Arbeit mit der Feststellung, dass die staatliche Steuerungsimpotenz nicht zum tragischen Verzweifeln führen muss, sondern vielmehr die Möglichkeit der Entwicklung einer ironischen Abstimmungspotenz bietet: „Die Einsicht, daß die selbst-referentiellen Semantiken komplexer Systeme nicht vereinbar sind, und dennoch unerschrocken für wechselseitige Abstimmung einzustehen, unterscheidet den ironischen vom tragischen Beobachter“ (Willke 1992, S. 321).

Fußnoten

(1) An diese Normalität der – aus der Sichtweise der Steuerungsoptimisten – Nicht-Normalität scheinen wir uns inzwischen gewöhnt zu haben; zumal wir uns „tagtäglich, falls uns die in den Nachrichten verbreiteten Absichtserklärungen und Versprechungen der Politiker nicht reichen, über kritische Kanäle darüber informieren, was alles trotz drängenden Bedarfs nicht geregelt und entschieden wird, was zwar geregelt wird, aber unvollständig bleibt, was in die ‘falsche’ Richtung geht, bei der Implementierung scheitert oder sich gar ins Gegenteil wendet“ (Bardmann 1991, S. 13).

(2) Diese wissenschaftliche Herleitung läßt sich mit den (kognitivistisch-konstruktivistischen) Epistemologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (1987, S. 34) als vierstufiger zirkulärer Prozeß vorstellen: 1. Beschreibung des zu erklärenden Phänomens (z.B. des Scheiterns von staatlichen Steuerungsbestrebungen); 2. Konstruktion bzw. Anwendung eines Systems von Konzepten, welches das zu erklärende Phänomen in einer intersubjektiv annehmbaren Weise (re-)konstruiert (siehe dazu vor allem Abschnitt II und III dieser Arbeit); 3. Ableitung von weiteren (unter 1. nicht berücksichtigten) Phänomenen sowie Beschreibung der (intersubjektiven) Beobachtungsbedingungen; 4. Beobachtung dieser aus 2. abgeleiteten Phänomene und Rückbezug auf 1.

(3) Daß dieser Anschluß nicht selbstverständlich ist, lässt sich leicht einsehen. Denn die Voraussetzung für kommunikative Anschlussfähigkeit ist ein wechselseitiges Beobachtungsverhältnis, das einer Handlung bzw. einem Verhalten erst den Status einer Mitteilung (von Information) gibt. Solange Verhalten oder andere Äußerungen, unabhängig davon ob sie psychisch als Handlung intendiert werden, keinen kommunikativen Mitteilungscharakter durch Beobachtung bekommen, sind sie sozusagen nicht-sozial. Aber wenn sich diese Beobachtung erst einmal kontinuierlich einstellt, dann gibt es, wenn man so sagen darf, keine soziale Flucht mehr, dann bekommt jedes Verhalten einen kommunikativen (Handlungs-)Wert, so dass nicht mehr nicht kommuniziert werden kann (vgl. ausführlich dazu Watzlawick 1969 oder auch Luhmann 1984, S. 562).

(4) Alle Professionen, die psychische, soziale oder psycho-soziale Veränderungen intendieren, sind deshalb gut beraten, wenn sie für Kontingenz, salopp gesagt: für die Möglichkeit, dass alles anders kommen kann als erwartet, offen sind. Der Begriff Kontingenz, der präzise formuliert, bezeichnet, dass „[…] Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes […] weder notwendig ist noch unmöglich ist […, sondern…] so, wie es ist (war, sein wird) sein kann, aber auch anders möglich ist“ (Luhmann 1984, S. 152), hat in der modernen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie einen zentralen Stellenwert (vgl. etwa ebd., S. 148ff.).

(5) Luhmann (1989, S. 329) illustriert z.B. mit den „sehr wertgeladene[n], gewerkschaftsunterstütze[n] Programme[n] zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen“ derartige nicht-intendierte Steuerungsnebenfolgen. Denn mittlerweile – so Luhmann mit Bezug auf eine Studie von Helena Flam aus dem Jahre 1987 (Market Configurations: Toward a Framwork for Socio-Economic Studies, in: International Sociology 2: S. 107 – 129) – bekämpften gerade Frauen diese Programme, weil sie zu deren Exklusion vom Zugang zum Arbeitsmarkt führten. Des weiteren könnten etwa durch Umweltauflagen, die für bestimmte Betriebe (beispielsweise als emissionsverringernde Maßnahmen) nicht finanzierbar sind, die Zahl von betrieblichen Konkursen steigen (vgl. Luhmann 1988, S. 147). Das politisch zunächst positiv bewertete Resultat einer möglichen Verringung der Umweltbelastung hätte damit einen politisch negativ bewertbaren Effekt, z.B. im Hinblick auf steigende Arbeitslosenzahlen durch konkursbedingte Betriebsschließungen.

(6) Niklas Luhmann hat diesbezüglich im Verlaufe der letzten zehn Jahre eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die die These der funktionalen Differenzierung am Beispiel der Funktionssysteme Wirtschaft (siehe Luhmann 1988), Wissenschaft (siehe Luhmann 1990), Recht (siehe Luhmann 1993) und Kunst (1995) jeweils ausführlich darstellen. Wie Luhmann (1997, S. 12) in seiner letzten großen Publikation, dem zweibändigen Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft, noch anführte, sollten weitere Texte folgen, die die funktional differenzierte Gesellschaft im Hinblick auf die Operationsweise ausdifferenzierter gesellschaftlicher Funktionssysteme analysieren. So wurden aus dem Nachlass bisher veröffentlich Die Politik der Gesellschaft (siehe Luhmann 2000a) und Die Religion der Gesellschaft (siehe Luhmann 2000b). 

(7) Die Einheit des ersten und des zweiten Aspekts scheint paradoxieverdächtig zu sein; denn es wird eine Gleichzeitigkeit von Independenz und Interdepenz konstatiert. Diese Paradoxie lässt sich entfalten, wenn betrachtet wird, dass sich Independenz auf die Funktionen und Interdependenz auf die Leistungen der jeweiligen Teilsysteme beziehen. (Zur Unterscheidung von Funktion und Leistung am Beispiel des Funktionssystems Wissenschaft siehe Luhmann 1977, S. 324).

(8) Am Beispiel der ökologischen Kommunikation hat Luhmann (1986) gezeigt, dass das gesellschaftlich relevante Thema der zunehmenden Umweltgefährdung und mithin Risikoerzeugung nur nach Maßgabe der wichtigsten Funktionssysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Religion diskursiv und materiell bearbeitet werden kann. Eine ökologische Kommunikation, die etwa versucht, mittels Ethik (vgl. ebd., S. 259ff.) eine alle Funktionssysteme transzendierende Perspektive einzunehmen und daraus normative Vorgaben ableitet, die funktionssystemübergreifend, sozusagen zentalistisch wirken sollen, wird – systemtheoretisch gesehen – an den jeweiligen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, pädagogischen oder religiösen Eigenlogiken scheitern.

(9) An diesem Punkt soll nur angemerkt werden, dass der Begriff ‘Beobachten’ systemtheoretisch sehr abstrakt angelegt ist und von einer ausschließlichen subjektiv-psychischen Systemreferenz abstrahiert; denn beobachten, d.h. unterscheiden und bezeichnen zwecks Informationsgewinnungkönnen alle selbstreferentiell-geschlossenen, autopoietischen (biologischen, psychischen und sozialen) Systeme, da es sich um differenzkonstituierte und -konstituierende Systeme handelt (vgl. etwa Luhmann 1984; 1990).

(10) Wie Willke (1996, S. 687) betont, ist mit „der Etablierung eines politischen Systems innerhalb einer Gesellschaft auf der Grundlage eines Herrschaftsvertrages […] zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer säkulären Begründung gesellschaftlicher Ordnung gegeben. Faktisch ist das Problem der Legitimität aber zunächst verschoben auf das Problem der Legitimität politischer Herrschaft oder genauer: auf das Problem der Legitimität der Regeln, nach denen die Politik ihre Funktion der Produktion verbindlicher Entscheidungen organisiert“.

(11) Diese Binnendifferenzierung des politischen Systems ist nichts anderes als die Realisierung der Idee der Gewaltenteilung nach Montesquieu (vgl. dazu auch Willke 1996, S. 687).

(12) Diese drei von Willke genannten Probleme verweisen auf drei zentrale Staatsaufgaben: dem Schutz der Bürger vor Gewalt durch Monopolisierung der Gewalt (vgl. ausführlich Willke 1992, S. 216ff.), dem Schutz der Bürger vor gesellschaftlich, sozusagen sozial-strukturell, also in erster Linie nicht individuell bedingte Armut (vgl. ebd., S. 239ff.) und 3. – als relativ neue Staatsaufgabe in einer ‘Risikogesellschaft’ (siehe Beck1986) – der Schaffung einer wissensbasierten Infrastruktur, um das Risiko, dass jede Entscheidung eine Gefahr für andere in sich birgt, unter Nutzung des nötigen und möglichen Wissens abzufedern (vgl. Willke 1992, S. 262ff.). Es ist leicht zu sehen, dass die Beschreibung der ersten beiden Staatsaufgaben auf Staatsmodelle wie Rechts- und Wohlfahrtsstaat rekurrieren, wobei die dritte Aufgabe ein neues Staatsmodell in Sichtweite bringt: den präventiven bzw. den Supervisionsstaat (vgl. ausführlich dazu etwa ebd., S. 300f. oder Willke 1996, S. 703). 

(13)Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Rosewitz und Schimank 1988, S. 303f., die anmerken, dass erstens die Voraussetzungen der Selbsteuerungsfähigkeit der jeweiligen Funktionssysteme nicht ausreichend berücksichtigt werden und zweitens Machtasymmetrien zwischen unterschiedichen Teilsystemen unproblematisiert bleiben.

(14) Wie Willke (1995b, S. 287) meint, ohne allerdings Beispiele anzuführen, „gehen gegenwärtige Theorien der Politik immer noch von einem expansiven Politikverständnis aus. Es weist der Politik die hierarchische Spitze und mithin den Steuerungsprimat in der Gesellschaft zu“.

Literatur

Bardmann, Th. M. (1991): Der zweite Doppelpunkt: Systemtheoretische und gesellschaftstheoretische Anmerkungen zur politischen Steuerung. In: ders. u.a.: Irritation als Plan. Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting-IBS: S. 10-31

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Foerster, H. v. (1988): Abbau und Aufbau. In: Simon, F. B. (Hrsg.): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Heidelberg: Springer:S. 19-33

Luhmann, N. (1977): Theoretische und praktische Probleme der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften. In: ders: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981: S. 321-334

Luhmann, N. (1980): Theoretische Orientierung der Politik. In: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981: S. 287-292

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 

Luhmann, N. (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag

Luhmann, N. (1987): Archimedes und wir. Interviews, hrsg. von D. Baecker und G. Stanitzek. Berlin: Merve

Luhmann, N. (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (1993): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (2000a): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Luhmann, N. (2000b): Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Maturana, H. R.; F. J. Varela (1984): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzelndes menschlichen Erkennens. München: Scherz (Goldmann) 1987

Mayntz, R. u.a. (Hrsg.) (1988): Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt/M./New York: Campus

Rosewitz, B.; U. Schimank (1988): Verselbständigung und politische Steuerbarkeit gesellschaftlicher Teilsysteme. In: Mayntz, R. u.a. (Hrsg.): Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt/M./New York: Campus: S. 295-329

Vogel, H.-Ch. (1991): Organisationen – Rationalistisches und Konstruktvistisches zum Planungsprozeß. In: Bardmann, Th M. u.a.: Irritation als Plan. Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting-IBS: S. 32-63

Watzlawick, P.; J. H. Beavin; D. D. Jackson (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber

Willke, H. (1989): Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation. Weinheim/München: Juventa

Willke, H. (1992): Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Willke, H. (1993): Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme. Stuttgart/Jena: Fischer. 4. Auflg.

Willke, H. (1994): Systemtheorie II:Interventionstheorie. Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexe Systeme. Stuttgart/Jena: Fischer

Willke, H. (1995a): Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme. Stuttgart/Jena: Fischer

Willke, H. (1995b): Transformation der Demokratie als Steuerungsmodell hochkomplexer Gesellschaften. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, Heft 2: S. 283-300

Willke, H. (1996): Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht. Schritte zur Legitimierung einer wissensbasierten Infrastruktur. In: Grimm, D.; E. Hagenah (Hrsg.): Staatsaufgaben. Baden Baden: Nomos: S. 685-711

Dialektik der Aufklärung. Phänomenale, kausale und aktionale Perspektiven eines Klassikers der Sozialwissenschaft

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, 1. Auflage 1944, New York; vorliegende Fassung: Frankfurt/M.: Fischer 1969.

1. Phänomenale Frage: Was wird in der Dialektik der Aufklärung (wie) beschrieben?

Die Dialektik der Aufklärung versucht zu erklären, wie es angesichts der Modernisierung der Gesellschaft, die seit dem 17./18. Jahrhundert unter dem Titel „Aufklärung“ firmiert, zu solchen Phänomenen wie Faschismus oder Stalinismus kommen kann – zumal die Aufklärung, die Modernisierung der Gesellschaft, Gegenteiliges intendiert, und zwar die Befreiung der Menschen aus ihrer Unmündigkeit (im Sinne I. Kants [1724 – 1804]), die Verwirklichung geistiger und humanistischer Ideale durch den gesellschaftlichen Fortschritt (im Sinne G. W. F Hegels [1770 – 1831]), die Emanzipation der Menschen aus der gesellschaftlichen Unterdrückung (im Sinne K. Marx’ [1818 – 1883]).

Allen Aufklärern war gemeinsam, dass sie daran glaubten, dass die Geschichte ein Ziel vorantreibt, das den Idealen der Aufklärung entspricht, also die Menschen in einen Zustand der Befreiung, Erkenntnis und des Glücks versetzt. Auch die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften schienen mit der Industrialisierung, mit der wissenschaftlich-technischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts so weit zu sein, dass eine Welt greifbar wurde, die den Idealen der Aufklärung entsprach, eine Welt ohne Hunger, Krieg und Unterdrückung. Aber die Welt wandelte sich in eine andere Richtung. Angesichts des Faschismus und des 2. Weltkrieges schrieben Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung (S. 7):

„Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (Horkheimer/Adorno, S. 7).

Dieses „triumphale Unheil“ spürten Adorno (1903 – 1970) und Horkheimer (1885 – 1973) am eigenen Leibe. Sie gründeten 1924 das Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M., das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine kritische Theorie der Gesellschaft zu entwickeln. Horkheimer und Adorno, selbst Antifaschisten und jüdischer Abstammung, verlegten das Institut nach der Machtergreifung der Nazis 1933 zuerst nach Genf und dann nach New York. Dort entwickelten sie die kritische Theorie der Gesellschaft weiter, vor allem mit der Dialektik der Aufklärung.

Die Leitfrage der Dialektik der Aufklärung ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des „triumphalen Unheils“ auf einer „vollends aufgeklärten Erde“:

„Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (S. 1).

Diese Barbarei sahen die Aufklärer (noch) nicht: Kant und Hegel glaubten an die Geschichte als Verwirklichung der Vernunft im Sinne eines „Vernünftigwerdens der Welt“ (Behrens 2003, S. 73). Sie sahen nicht, was im 20. Jahrhundert sichtbar wurde: „was sich als Vernunft zu realisieren schien, entpuppte sich als Umschlag von Rationalität in Irrationalität“ (ebd.). Die Vernunft wurde dafür eingesetzt, den Massenmord (in Auschwitz und anderswo) und den Krieg zu planen und zu verwalten – und zwar nach Kriterien der Aufklärung, nach Effektivität und Effizienz. Der Aufklärer Marx glaubte an die Befreiung der Arbeiter durch die Entwicklung der Produktionsverhältnisse, die – zu einer Lokomotive der Geschichte geworden – die Menschen durch Revolutionen aus den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen befreien wird. Es zeigte sich jedoch Gegenteiliges: „Adorno und Horkheimer […] stellen heraus, dass die ökonomischen Verhältnisse weit über den eigentlichen Produktionsbereich hinaus die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bestimmen: Ausbeutung ist zur allgemeinen Unterdrückung der Menschen durch den Menschen geworden“ (ebd.).

Die gesamte Gesellschaft hat sich kapitalisiert, wie Horkheimer und Adorno Mitte der 1940er Jahre sahen, alle Verhältnisse der Menschen zueinander stehen unter dem ökonomischen Gesetz der Effektivität und Effizienz, der Nützlichkeit und Verwertbarkeit, die Welt ist zu einer vollkommen ökonomisierten (im Kapitalismus) und vollkommen verwalteten (besonders im Faschismus und Stalinismus) Welt geworden.

Damit steht die Vernunft der Aufklärung in ihrer Dynamik selbst infrage:

„Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet“ (Horkheimer/Adorno, S. 38).

Das augenscheinlichste Zeichen dieses „absurden Zustandes“ der Vernunft, der zu einer „neuen Art der Barbarei“ führt, war zwar zunächst der Faschismus, aber Horkheimer und Adorno untersuchten eine grundsätzlichere Frage: wie nämlich die menschliche Vernunft, die rationale und moralisch „gute“ Intention menschlicher Theorie und Praxis in ihr Gegenteil umschlagen kann, in die Unvernunft und in das „Böse“. Der Dialektik der Aufklärung geht es also um die Reflexion der Ambivalenz der Moderne, um die Darlegung der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Tendenzen, um die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt, von Aufbau und Zerstörung. Denn Dialektik der Aufklärung „fordert Aufklärung über die Schattenseiten des gesamten geschichtlichen Fortschritts; sie will nichts Geringeres als die Suche nach der Ursache für die geistigen, kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Perversionen der Menschheitsgeschichte schlechthin provozieren“ (aus dem Klappentext der Reclam-Ausgabe der Dialektik der Aufklärung, Leipzig 1989).

2. Kausale Frage: Welche Ursachen werden in der Dialektik der Aufklärung für die beschriebene Ambivalenz der Moderne aufgeführt?

Für Horkheimer und Adorno erklärt sich der unter 1. beschriebene Zustand aus der Entwicklung der Geschichte selbst, aus ihrer eigenen inneren Logik. Die Vernunft und die Aufklärung treten nicht aus ihren eigenen Logiken heraus, wenn sie in ihr Gegenteil, in Barbarei, in Faschismus oder Stalinismus oder in eine vollends kapitalisierte Gesellschaft umschlagen, sondern sie folgen vielmehr ihren eigenen (ambivalenten) Logiken.

Mit dieser These schließen die beiden Autoren an die Philosophie von Friedrich Nietzsche (1844 – 1890) an, der wohl der erste Aufklärer über die Aufklärung war: „Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus“ (Nietzsche 1883, S. 100). Nietzsche machte aus der Fortschrittsdialektik von Hegel und Marx, deren Kritiker er war, eine Ambivalenzdialektik, eine Dialektik der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen.

Horkheimer und Adorno inszenieren beispielsweise die Ambivalenzen der Aufklärung, wenn sie vorführen, dass Befreiung mit Unterdrückung einhergeht: Die Menschen befreien sich von der Natur, aber werden damit von dem System, das sie selbst geschaffen haben, mehr und mehr verwaltet.

Hier zeigt sich etwas, was uns in den Matrix-Filmen vorgeführt wird: Maschinen, die die Menschen einst bauten, um sich von dem Joch der harten Arbeit zu befreien, verwalten, verwerten und züchten nun diejenigen, die ihre Erbauer waren – und zwar so perfekt, dass es die meisten Menschen gar nicht merken. Denn der „Verblendungszusammenhang“ (Horkheimer/Adorno), in Matrix: die computerinszenierte Scheinwelt, verhindert den Blick in die wirkliche Wirklichkeit, in die Welt hinter der Fiktion.

Marx erkannte dieses Phänomen bereits und nannte es Entfremdung; das, was die Menschen durch ihre Arbeit schufen, vergegenständlicht sich und tritt ihnen als etwas Fremdes gegenüber – als etwas Fremdes, so können wir mit Horkheimer und Adorno weiterführen, das nun Macht über sie gewinnt.

Zunächst hat die Aufklärung jedoch versucht, den Mythos zu besiegen, die Scheinwelten des (Aber-) Glaubens umzustürzen, die „Verblendungszusammenhänge“ zu lüften und die Menschen zur Macht der Erkenntnis zu verhelfen. Aber:

„Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann“ (Horkheimer/Adorno, S. 12).

Damit wirkt die Aufklärung selbst als Verschleierung der Verhältnisse, als Mythos. Die Vernunft verschleiert beispielsweise, dass sie nicht eindeutig, sondern ambivalent ist, dass sie dazu führt, dass die Menschen die Macht, die sie im Laufe der Geschichte über sich, die Natur und die Gesellschaft gewinnen, zugleich verlieren, abgeben an das, was sie schaffen: an die Systeme und Maschinen. 

„Daher wäre es eine vergebliche Hoffnung, wenn man meinte, von der Positivbilanz äußerer Naturbeherrschung die Negativbilanz innerer Naturunterdrückung abkoppeln zu können. Es liegt vielmehr im Zuschnitt dieser Vernunft begründet, daß sie Zwang von den Menschen nur so nehmen kann, daß sie ihnen zugleich anderen Zwang auferlegt“ (Welsch 1996, S. 81).

Die Herrschaft über die Natur führt dazu, dass die Menschen ihre Natur entäußern, und damit eine entstellte Natur schaffen, der sie sich nun selbst unterwerfen müssen. Die von den Menschen gemachte Welt wird zu einer entmenschlichten, nicht (mehr) nach humanen Gesetzen bestimmte Anpassungswelt:

„Die ökonomisch bestimmte Richtung der Gesamtgesellschaft, die seit je in der geistigen und körperlichen Verfassung der Menschen sich durchsetzte, läßt Organe des Einzelnen verkümmern, die im Sinne der autonomen Einrichtung seiner Existenz wirkten. Seitdem Denken ein bloßer Sektor der Arbeitsteilung wurde, haben die Pläne der zuständigen Experten und Führer die ihr eigenes Glück planenden Individuen überflüssig gemacht. Die Irrationalität der widerstandslosen und emsigen Anpassung an die Realität wird für den Einzelnen vernünftiger als die Vernunft. Wenn vordem der Bürger den Zwang als Gewissenspflicht sich selbst und den Arbeitern introjiziert hatten, so wurde inzwischen der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression. Im Fortschritt der Industriegesellschaft, die doch das von ihr selbst gezeitigte Gesetz der Verelendung hinweggezaubert haben soll, wird nun der Begriff zuschanden, durch den das Ganze sich rechtfertigte: der Mensch als Person, als Träger der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in Wahnsinn um“ (Horkheimer/Adorno, S. 183).

3. Aktionale Frage: Was ist zu tun? Kann der Dialektik der Aufklärung entflohen werden? 

Zunächst kann die aktionale Frage – erstens – so beantwortet werden, dass genau das gesehen werden sollte, was als Dialektik der Aufklärung beschrieben wird. Es sollte sich also aufgeklärt werden über die Ambivalenz der Aufklärung – und dies ist zweifellos selbst: Aufklärung, und zwar über Aufklärung.

„Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen“ (Horkheimer/Adorno, S. 231).

Und dies könnte beispielsweise für alle Professionen, die People Processing betreiben, bedeuten, dass sie sich aufklären über ihre Funktion innerhalb der Dialektik der Aufklärung. Diese Funktion hat Michel Foucault (1975, S. 392f.) deutlich gemacht. Demnach gehören solche sozialen Praxen zu Vollstreckern der verwaltenden und normierenden Vernunft, und zwar als Teil eines Normalisierungsapparates, der über Norm und Abweichung richtet:

„Die Normalisierungsrichter sind überall anzutreffen. Wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen“ (ebd.).

Zweitens ist die These, dass die Dialektik der Aufklärung nur durch Aufklärung selbst aufklärbar ist und vielleicht durchbrochen werden kann, eine Aporie, eine Ausweglosigkeit. Aufklärung über Aufklärung kann nur eines sein – wie gesagt: Aufklärung, vernünftige Kritik an der Vernunftlogische Argumentation gegen die Logik der Moderne. Die Aufklärung über die Aufklärung wendet damit das auf sich selbst an, was sie kritisiert: nämlich die (ambivalente) Aufklärung. Es gibt offenbar kein Entrinnen aus dem System der Aufklärung. Die Aufklärung kann nur immanente Kritik üben: Selbstkritik

Dies wird uns auch in Matrix vorgeführt: Neo kommt nicht hinaus aus der Matrix, vielmehr merkt er, dass auch die Negation der Matrix zur Matrix gehört, dass das System seinen eigenen Widerspruch enthält, die Verneinung ist selbst Teil der Bejahung des Systems. Aus diesem Paradox gibt es kein Entrinnen.

Drittens empfehlen Horkheimer und Adorno (siehe dazu auch Welsch 1996, S. 83ff.) der Vereinheitlichungstendenz, dem totalitären Prinzip der Aufklärung entgegenzuwirken: 

„Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System. Nicht was ihre romantischen Feinde ihr seit je vorgeworfen haben, analytische Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern daß für sie der Prozeß von vornherein entschieden ist. Wenn im mathematischen Verfahren das Unbekannte zum Unbekannten einer Gleichung wird, ist es damit zum Altbekannten gestempelt, ehe noch ein Wert eingesetzt ist. Natur ist, vor und nach der Quantentheorie, das mathematisch zu Erfassende; selbst was nicht eingeht, Unauflöslichkeit und Irrationalität, wird von mathematischen Theoremen umstellt“ (Horkheimer/Adorno, zit. n. Welsch 1996, S. 83).

Demnach sollte das Ziel darin bestehen, das Unbekannte, das Andere, das Fremde der (eigenen) Vernunft nicht einzuverleiben und es zum Gleichen, zum Selben zu machen, sondern es in seiner Verschiedenheit auszuhalten. Adorno hat ein solches Denken später (1967) Negative Dialektik genannt. Eine negative Dialektik verweigert sich dem identifizierenden Denken, der Totalität der Begriffe und interessiert sich für das mit dem begrifflichen Denken nicht klar Fassbare, für das Paradoxe und Ambivalente.

„Utopie wäre über der Identität und über den Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen“ (Adorno 1967, S. 153). 

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1967): Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Behrens, Roger (2003): Adorno-ABC. Leipzig: Reclam.

Foucault, Michel (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1944): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer (1969).

Nietzsche, Friedrich (1883): Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 4. München: dtv (1999). 

Welsch, Wolfang (1996): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Lob der Übertragung. Zwischenbericht einer Sloterdijk-Lektüre

Dieser Text aus dem Jahre 2003 entstand nach einer intensiven Beschäftigung mit dem ersten Band der Sphären-Trilogie von Peter Sloterdijk.

„Es möge sich fernhalten, wer unwillig ist, die Übertragung zu loben und die Einsamkeit zu widerlegen.“ Peter Sloterdijk

Ich gebe es ohne Umschweife zu: Mich reizt das Deviante, das von der Norm Abweichende.[1] Daher ist es auch kein Zufall, dass mich die Philosophie von Peter Sloterdijk interessiert. Denn Sloterdijk gilt im akademischen Mainstream der Geisteswissenschaften als Abweichler, als einer, der nicht jenen Ton trifft, welchen man gemeinhin hören will. Sloterdijk ist einer, der dazwischen ruft, der die wissenschaftlich und politisch korrekt sein wollenden Mitglieder welcher Diskursgemeinschaften auch immer zum Aufschrecken, ja zum Aufschreien bringt. Kurz: Sloterdijk irritiert. Und das macht er im besten systemisch-konstruktivistischen Sinne. Er regt zum Nachsinnen über Wirklichkeitskonstruktionen an, provoziert dazu, sich neue Realitätsbeschreibungen zu kreieren. Aber dabei kann er freilich nur für das, was er sagt und schreibt, Verantwortung übernehmen und gewiss nicht für jenes, welches seine aufgeschreckten Kritiker in seine Worte hinein interpretieren.

Insbesondere die sogenannten kritischen Theoretiker der Habermas-Schule nehmen Anstoß an Sloterdijks jüngste Thesen hinsichtlich der philosophie-historischen Kontextuierung der Gentechnologie,[2] sie meinen der Philosoph von der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe äußere sich „faschistoid“.[3] Angesichts dieser Vorwürfe könnten wir Silvio Vietta zustimmen, der ausführt, dass geradezu reflexartig „die Faschismuskeule geschwungen“ wird, „wenn etwas Unheimliches naht, das die Kritische Theorie nicht mehr verorten kann“.[4] Und dieses Unheimliche ist lediglich eine Frage sowie der vorsichtige Versuch, sich eine Antwort zu erarbeiten – und zwar eine Antwort auf die Frage, in welchem geistesgeschichtlichen Kontext die aktuellen Vorstöße in Richtung gentechnischer Synthese des Menschen zu sehen sind und welche zukünftigen Wirkungen eine solche Synthese, wenn sie denn tatsächlich möglich ist,[5] für die Menschheitsgeschichte haben könnte. Sloterdijk fragt also insbesondere, „ob auf lange Sicht so etwas wie eine explizite Merkmalsplanung auf Gattungsebene überhaupt möglich sei und ob die optionale Geburt (mit ihrer Kehrseite: der pränatalen Selektion) gattungsweit zu einem neuen Habitus in Fortpflanzungsfragen werden könnte“.[6]

Diese Frage verortet er in einem historischen Kontext, in dem man so sensible Geister wie Platon, Nietzsche und Heidegger findet und der sich ausdehnt bis hinein in die Gegenwart der heutigen Diskursräume: Es ging und geht um die theoretische und ethische Beschäftigung mit den Möglichkeiten der menschlichen Selbstformung, um Erziehung und Manipulation, aber auch um menschliche Verhaustierung, um Domestikation des Menschen. Diese Domestikation kann sowohl psycho-sozial (das ist die klassische Form, z.B. durch Erziehung) als auch (und hier scheint die gentechnische Revolution auf) biologisch ansetzen. Bei der Beschäftigung mit diesem Themenfeld blinken uns also die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von – wie Sloterdijk formuliert – Zähmung (z.B. durch Pädagogik) und Züchtung (durch gentechnologische Synthese) entgegen. „[…] der Diskurs über die Differenz und Verschränkung von Zähmung und Züchtung, ja überhaupt der Hinweis auf die Dämmerung eines Bewußtseins von Menschenproduktionen und allgemeiner gesprochen: von Anthropotechniken – dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlosung widmen“.[7]

Wenn von „Verharmlosung“ gesprochen wird, dann liegt der Schluss nahe, dass das Problem eben nicht harmlos, sondern schlimmstenfalls gefährlich ist. Ungeachtet der Unterscheidung von harmlos/gefährlich lässt sich jedenfalls mit Gewissheit sagen: Die Menschen sind seit sie begannen, als bewusste Wesen ihre eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen, bemüht, sich selbst und ihre Umwelt verändernd zu beeinflussen, sie sind, seit sie als Menschen sind, immer schon Technik-Erfinder, -Gebraucher und -Vervollkommener: „Wenn ‚es’ den Menschen gibt, dann weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hat hervorkommen lassen. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende oder der Plan, auf dem es Menschen geben kann.“[8] Die Gentechnik ist als eine auf „Züchtung“ ausgerichtete Anthropotechnik – neben solchen „zähmenden“, das Unbehagen in der Kultur[9] versinnbildlichenden Anthropotechniken wie Erziehung oder auch Sozialarbeit – die jüngste Stufe dieser nicht selten problematischen und sich selbst überschätzenden Bemühungen.

Warum sich die „zähmenden“ Anthropotechniken wie Erziehung und Sozialarbeit überschätzen, haben wir in den letzten Jahren aus systemischer Sicht häufig gehört,[10] wieso das gleiche für die Gentechnik zutrifft, die – um bei diesen Worten zu bleiben – Züchtung statt Zähmung empfiehlt, kann ich hier nur andeuten. Diese gefährliche Selbstüberschätzung wird aber bereits erahnbar, wenn man hört, dass in gentechnologischen Laboratorien darüber schwadroniert wird, ob der Staat das Geld, das er für Arme, Kranke, Obdachlose, also für Klientel der Sozialarbeit ausgibt, eher der gentechnologischen Forschung und Praxis bereit stellen sollte. Denn – so wird rhetorisch gefragt – sind denn Armut, Krankheit, Obdachlosigkeit nicht Wirkungen genetisch bedingter Abweichungen im Menschenmaterial, die es zu korrigieren gilt? 

Wer so fragt, der fordert tatsächlich faschistische Antworten heraus. Ein solches Fragen liegt Sloterdijk allerdings fern. Er sensibilisiert vielmehr dafür, sich der Herausforderung der neuen Anthropotechiken mit „Weisheit“ zu stellen. Eine solche Weisheit normalisiert und entdramatisiert zunächst das Problem, indem sie deutlich macht, dass „den Menschen nichts Fremdes [geschieht], wenn sie sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern“; sie tun dies nämlich bereits seit Urzeiten, es gehört unmittelbar zum Menschsein dazu, technische Versuche der Selbstvervollkommnung zu unternehmen. Zugleich jedoch warnt eine solche Weisheit vor einer Dummheit, die dazu ermutigt, reflexiv voraussetzungslos ans Werk zu gehen und dadurch nicht zu beachten, dass „diese Eingriffe und Hilfen […] auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale Natur des Menschen [geschehen müssen], daß sie als authentische, kluge und gewinnbringende Koproduktionen mit dem evolutionären Potential wirksam werden können“.[11]

Wer die Gentechnik „authentisch, klug und gewinnbringend“ einsetzen will, der darf vor allem nicht blind sein für das, was wir den sozialen Raum, die Mikro- und Makro-Sphären, die Blasen und Globen – um bereits mit Sloterdijk zu sprechen –[12] nennen können, die in zweifacher Weise das einhöhlen, was die Gentechnologie meint, enträtselt zu haben, nämlich den Code zur Produktion von Menschen.

Erstens wird dieser Code, diese sogenannte Schrift interpretatorisch eingehöhlt. Denn wenn das Genom tatsächlich, wie die Biologen nicht müde werden zu formulieren, in Form eines Codes, einer Schrift vorliegt, dann ist es hinsichtlich des Verständnisses, der Auslegung, der Entzifferung, kurz: der Hermeneutik wie jedes gelesene Wort, wie jeder Text abhängig von den Rezipienten, also abhängig von seiner biologischen Leserschaft, dann steht es gerade nicht auf dem Präsentierteller des Objektiven, kann auf es nicht mit dem Finger gezeigt werden; vielmehr muss man soziale Techniken der Interpretation einsetzen, um es zu entziffern, um es zu lesen. Und Lesen als psychisches und – wenn dessen Ergebnisse kommuniziert werden – als soziales Ereignis produziert Kontingenz, erzeugt einen Reichtum an Möglichkeiten der Sinninterpretation, so dass wir hier alles andere als Eindeutigkeit (z.B. hinsichtlich der Merkmalserkennung, geschweige denn -planung) erkennen können. Wie Peter Fuchs in einem ketzerischen Essay gezeigt hat,[13] blenden die Biologen in „nahezu bodenloser Ignoranz“ aus, „dass das am Lochstreifen der DNS kondensierende Material (der Körper) nichts ist, was irgendeine Bedeutung hätte (außer vielleicht verzehrbares Fleisch zu sein), wenn nicht eine andere, weitaus bedeutendere Macht auf dieses herausgetickerte Material zugriffe: die Sphäre des Sozialen“.

Zweitens wird die genetische Schrift in einer Weise sozial-systemisch eingehöhlt, die dazu führt, dass sie niemals direkt sogenannte Merkmale prägen kann. Es sind nämlich die Grenzen der sozialen Systeme zu ihrer biologischen Umwelt, zu der auch die Körper mit ihrer autopoietischen Determination gehören, an denen sich das Genom bricht, an denen es mit seiner vermeintlich determinierenden Durchschlagkraft zerschellt. Hinsichtlich des Sozialen schreibt es „nichts auf und nichts vor“,[14] wie Fuchs feststellt. „Niemand wird leugnen wollen, dass wir dem Genom unseren Mund, die Stimmritzen, die Geschmackspapillen verdanken, aber was der Mund tut, was er isst, was er nicht isst, wen er küsst (und wie er küsst), bei welchen Gelegenheiten aus ihm erbrochen wird, wann aus ihm gesungen wird (und ob Fangesänge oder Arien), welche Sprache mit ihm gesprochen wird (und was in dieser Sprache möglich oder nicht möglich ist), wird im Zuge der Sozialisation reguliert. Dass unser Körper sexuell reagieren kann, ist zweifelsfrei genetisch bedingt, aber bei welchen Gelegenheiten der sexuelle Motor offen anspringen kann oder nur leise Summen darf, welche Reize ihn anwerfen, wie seine polymorphe Perversität eingeschränkt oder ausgearbeitet wird, wie der Kontakt zwischen Liebenden angebahnt werden darf und wie nicht, wann Sexualität peinlich wirkt, wann locker, selbst zwischen wem sie zugelassen ist und wem nicht, dies alles entscheidet sich im Zuge dessen, was die sozialen Systeme (synchron und diachron weltweit verschieden) anbieten“.[15]

Aus dieser soziologischen Perspektive können wir also Sloterdijks Frage, ob biologische Merkmalsplanung überhaupt möglich sei, beantworten – und dies vielleicht anders als er selbst dies tun würde. Denn wir behaupten, dass eine solche Merkmalsplanung gar nicht oder nur beschränkt möglich ist, weil Merkmale immer durch den Kanal des Sozialen fließen, in den Rechner des Sozialsystemischen eingelesen werden müssen, erst im sozialen Verkehr relevant und daher sozial (also dialogisch interpretierend, sinnstiftend, sozial-systemisch kontextuell) und nicht biologisch geprägt werden. Bei der Beantwortung dieser Frage bleiben wir also streng systemtheoretisch und anerkennen keine Ausnahmen beim strukturell gekoppelten, sich gegenseitig zwar bedingenden, aber nicht determinierenden Wechselverhältnis in der Ko-Produktion von biologischen, psychischen und sozialen Systemen.[16]

*

Welche Sphäre das Soziale nun bildet, das unsere genetisch geerbten Merkmale interpretiert und in Schablonen des Verstehens und Verhaltens einprägt, indem es ihnen in sozialer Kommunikation eine sinnhafte Bedeutung verleiht, können wir beispielsweise bei komplexen Sozialentheorien wie der Luhmannschen Systemtheorie in präzisen Worten erfahren.[17] Ich schlage jedoch vor, dass wir unseren Blick von den technisch kühl funktionierenden soziologischen Navigationsinstrumenten der Systemtheorie einmal abwenden, den Autopiloten einschalten, der den Blindflug über den Wolken der Gesellschaft nun für einige Zeit für uns überwacht und einen Blick in Richtung Sonne werfen. Denn dort werden wir ein noch schwer kategoriesierbares Gebilde sehen können, das aus unbekanntem Material besteht, sich mit einem unbekannten Antrieb fortbewegt und dabei so schön und elegant wirkt, dass es uns den Atmen verschlägt. Dieses Gebilde, das wie die Systemtheorie die sozialen Sphären in angemessener Höhe abfliegt, aber hin und wieder die Wolkendecke durchstößt und manchmal der Sonne gefährlich nahe kommt, ist die Sphärentheorie von Sloterdijk. Nehmen wir uns ein wenig Raum, um diese Theorie zu betrachten – gewiss: vom sicheren Ort der Systemtheorie aus, denn es könnte gefährlich, ja sehr heiß werden, wenn wir uns zu dicht an die Sphärologie heran wagen.

Sloterdijk interessiert sich – zumindest im Band Sphären I, den er auch mit Blasen und Mikropsphärologie untertitelt – für die sozialen Nahräume, die uns mit stark seelisch, emotional und kognitiv integrierenden Momenten aus der existenziellen Entfremdungswelt der nur noch kommunikativ und kühl inkludierenden Systeme geradezu heilsam heraus reißen (können). Es geht in der Sphärologie nicht um Inklusion, sondern um Integration,[18] um die Frage, „wie menschliche Wesen aneinander und an interaktiv errichteten surrealen oder symbolischen oder imaginären Räumen teilhaben“.[19] Dabei sieht sich der Sphärentheoretiker selbst in eine Zeit gestellt, in der man seine Luhmann-Lektionen gelernt haben sollte: „Nach Luhmann denken – das bedeutet für mich: die altehrwürdigen Begriffe der Liebe, der Seele, des Geistes, ein wenig aktueller gesprochen: der Teilhabe am Anderen und der Existenz in gemeinsamen Animations- und Motivierungsräumen, derart neu zu fassen, daß in der Darstellung selbst die Erschwerungen fühlbar werden, die mit dem aktuellen ‚Weltzustand’ […] gegeben sind.“[20]

Diese Erschwerungen sind zunächst existenzieller Art, sie sind Erschwerungen, die die Gefühlslage des „sozial ortlosen“ Menschen in der Moderne in einen permanenten Leidenszustand versetzen, in dem Glück „immer nur als ein verlorenes zu denken [ist], nur als schöne Fremde.[21] Diese schöne Fremde, dieses Glück ist in der Regel für uns Heutige, für die alle möglichen („zähmenden“) Anthropotechniken (z.B. Psychotherapie) zum notwendigen Lebenselixier geworden sind, „nicht mehr als eine Ahnung, auf die wir mit Tränen in den Augen zugehen, ohne anzukommen.“[22] Sloterdijk scheint jedoch angekommen zu sein, er hat offenbar inzwischen die Seiten gewechselt, schreibt mittlerweile aus dem beseelten Innenraum einer intimen Sphäre des Glücks, einer zerbrechlichen Blase, in welche er (wieder) aus der existenziellen Erfahrungswelt der Einsamkeit, also von außen eindringen konnte: „Ich spreche jetzt eine Sprache der wiedergewonnen Animation. Alles was ich sage, beruht auf dieser Erfahrung der wiedergewonnen Beseeltheit zu mehreren. […] Ich weiß, was Oberflächlichkeit ist, und ich weiß, was dunkle Existenzialität ist und was das Pathos der Vereinsamung bedeutet, aber ich spreche jetzt ganz bewußt aus der anderen Perspektive, das heißt nach dem Wiedereintritt in diese sich selber reparierende Sphäre der zu mehreren geteilten Beseeltheit“.[23]

Vor dem Wiedereintritt in diese geteilte Beseeltheit, in diesen intimen Raum des Wir, dem er seine Sphärologie widmet, sah er die Welt noch mit Nietzsche, nämlich als ein Tor zu tausend Wüsten, leer und kalt. Jetzt auf der anderen Seite dieses Tors angekommen, auf der Seite der Sonnen durchfluteten grünen Oasen, voll und warm, kann Sloterdijk die Frage nach der Möglichkeit „der Wiederherstellung der Teilhabe“ beantworten. Jetzt erst, nachdem er – wie jeder „sphärengestörte Mensch“, der draußen war, der durch „diese Entfremdungswüste, durch diese Kältewüste und durch diese Nichtteilhabewüste“[24] gegangen ist –, ja jetzt erst, nachdem er das Leiden der Menschen an der Welt erfahren, aber – wie nur wenige – überwinden konnte, unternimmt er offenbar den Versuch, die beseelten Räume, die intimen Sphären und die Zugangsmöglichkeiten zu ihnen zu beschreiben. 

Dabei verrückt er viele Voraussetzungen und schweigend akzeptierte Regeln unseres alteuropäischen Denkens, z.B. die Startposition der Philosophie. Denn Philosophie wird bei ihm zum Maßstab für die Möglichkeit, die Einsamkeit, nämlich die Kälte der Eins zu verlassen. Philosophie fängt für Sloterdijk daher nicht mehr mit der Eins, dem Einen, etwa dem denkenden, sich selbst reflektierenden Subjekt, sondern mit der Zwei an, mit dem – systemtheoretisch gesprochen: Subjekt zweiter Ordnung, das erst dann subjektive Züge gewinnt, erst dann zur selbstreferentiellen Nicht-Trivialität wird, wenn es in einen Verweisungskontext des gegenseitigen, mindestens von zwei sich unterscheidenden Beobachtern markierten und damit sinngefüllten Kontext eintritt. Kurz: Sloterdijk verschiebt den Startplatz der Philosophie von der Eins zur Zwei: „Ich lasse die Ontologie mit der Zwei-Zahl beginnen.“[25] Sphäre ist für ihn in dieser philosophischen Schreibweise der Dyade, der Zweiheit eine sich selbst umkreisende Relation zwischen (mindestens zwei) Elementen: „Was ich Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben“.[26]

In Sphären I wird eine mit der soziologischen Systemtheorie verwandte philosophische Sozialtheorie entworfen, die sich zwar nicht mit kühlen Inklusions-Systemen, sondern mit den warmen Integrationsräumen beschäftigt, die aber genauso wie das systemische Denken deutlich machen will, dass die Welt aus Relationen besteht, deren Knoten- bzw. Umlaufpunkte, deren Enden zwar Substanzen, Dinge und Subjekte hervorscheinen lassen. Nicht aber diese „festen“ Entitäten sind es, die die Relationen produzieren, sondern umgekehrt: die Beziehungen, die Kommunikationen erschaffen die Personen. Person kann man nur sein in Relation zu anderen Personen. „Noch einmal fragen wir: Wo ist das Individuum? Und geben die sphärologische Antwort: Es ist zunächst und zumeist Teil eines Paares“.[27] Und Sloterdijk fährt fort wie ein Paar- und Familientherapeut, der anzugeben versucht, woraufhin er seinen Beobachtungs- und Interventionsfokus justiert, nämlich „auf die unsichtbare oder virtuelle Paarstruktur“.[28] Es reiche nicht aus, das Paar zu betrachten, sondern wofür sich die Sphärologie interessiert ist das Dritte zwischen den das Paar bildenden Partnern, das etwas Emergentes bildet, etwas, das weder auf den einen noch auf den anderen Partner zurückgeführt werden kann.

Wir können hier sehr deutlich sehen, dass das, was das systemische Projekt seit langem versucht, nun auch in die Philosophie von Sloterdijk hinein schwappt, nämlich der Versuch, das Substanzdenken zugunsten eines Denkens von Beziehungen zu überwinden: „Das philosophische Engagement von Sphären I besteht in dem Vorsatz, die in der philosophischen Tradition stiefmütterlich behandelte Kategorie der Relation, der Beziehung, des Schwebens in einem Ineinander-Miteinander, des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Größe zu erheben und die sogenannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Schwebens zu behandeln“.[29]

Und diese „Geschichte des Schwebens“ ist die Geschichte von Blasen. Blasen sind das Sinnbild für das Zerbrechlichste, was es in der „Zwischenwelt“ der Menschen, in den Sphären gibt, für das, was wir gemeinhin intime menschliche Beziehungen, was wir Liebe (nicht nur erotische, sondern auch freundschaftliche oder Elternliebe) nennen und so bestaunen sollten wie ein Kind vorsichtig in die Luft gehauchte und schwebende Seifenblasen bestaunt. Sicher, Blasen werden früher oder später platzen. Die Hoffnung des Kindes auf ewiges Fliegen der Blasen wird enttäuscht. So folgt der momenthaften Erfahrung des Glücks (z.B. beim Zusehen, wie die Blasen schweben) zwangsläufig die Enttäuschung der Hoffnung, ja das Unglück – oder noch schlimmer: „Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist“.[30] Doch der ist bemitleidenswert, der hier im Unglück verweilt, der die Melancholie länger als es nötig ist, um den psycho-hygienisch wichtigen Trauerprozess durchzuleben und abzuschließen, als Gast zu sich bittet. Zumeist „kehrt die Spielfreunde mit ihrem bewährtem grausamen Vorwärts wieder. Was sind geplatzte Hoffnungen anderes als Anlässe zu neuen Versuchen?“[31]

Diese neuen Versuche werden wieder mit Hoffnungen einhergehen, mit Hoffnungen, die wir aus den tiefen Schichten unseres Wunschspeichers entnehmen, der – wie wir noch sehen werden – von der Übertragung lebt. Wir wünschen, so spricht nicht nur Sloterdijk, sondern das Leben selbst, nichts sehnlicher als in intimen Räumen zu leben, zu lieben. Und jedes Lieben, wenn es denn das Glück hat, die psycho-biologische, die kognitiv-emotionale Sphäre in Richtung Sozialität zu überschreiten, führt zu einer sozialen Sphärenbildung, zu einer „Innenraumschöpfung“.[32] Diese Innenraumschöpfung, und dies ist für mich eine heilsame, für manche sicher eher eine überraschende These, lebt von dem (psychoanalytisch geprägten) Phänomen der Übertragung.

Wenn wir unsere sphärische Urerfahrung in die Gegenwart hinein, ja über-tragen können, dann sind wir heil, sind wir ganz, nämlich so, dass wir lieben können ohne zu leiden, dass wir die anderen nicht brauchen als welche, die unsere seelischen Löcher stopfen. Diese Löcher sind nämlich Erinnerungslücken bezüglich der sphärischen Urerfahrung der gelebten Zweiheit, die bereits im Mutterleib als „intra-uterine Kohabitation mit der Plazenta“[33] bestand: „Alle Geburten sind Zwillingsgeburten; niemand kommt allein zur Welt. Auf jeden Ankömmling [auf jeden Orpheus; H.K.], der zum Licht hinaufsteigt, folgt eine Eurydike, anonym, stumm und zum Anschauen nicht geschaffen. Was übrigbleiben wird, das Individuum, das nicht noch einmal Teilbare, ist schon das Ergebnis eines Trennungsschnitts, der die vorzeitlich Unzertrennlichen in Kind und Rest aufteilt. Eurydike geht unter, doch ihr Verschwinden ist nur scheinbar ein spurloses, denn außer dem Nabel – jenem im Fleisch festgehaltenem Denkmal der aufgelösten Verbindung mit ihr – hinterläßt sie eine sphärische Leerstelle im Umraum des Kindes, ihres Protégés und Zwillings“.[34] Diese Leerstelle muss immer und immer wieder neu besetzt werden; zuerst mit der Mutter, deren Beziehungsmöglichkeiten dann erneut die Übertragungsvorlage bilden für weitere Ein- und Hineinschnitte in die sphärischen Beziehungswelten.

Die Menschen sind „bleibend auf anonyme Begleitung hin angelegt“.[35] Die Übertragung dieser Erinnerung auf gegenwärtige Objekte und Räume führt zur Liebe. Aber wehe diese Übertragung gelingt nicht, dann führt die für das Misslingen verantwortliche „Verwerfung der Erinnerung an das Proto-Dual […] zu schlechten Ersatzbildungen. Man verlernt das Finden, wenn das Suchbild zerstört ist“.[36]

Daher ist die Sphären, ist die intime Innenräume eröffnende Liebe hinsichtlich des Proto-Duals der Zweiheit mit der Plazenta die Schablone für Liebe schlechthin, eben Übertragungsliebe. Sie kann andere Objekte und Räume, sprich: Sphären mit Liebe zwischen Menschen beseelen, weil sie immer schon geliebt hat und nach wie vor liebt. Sloterdijk rehabilitiert damit das psychoanalytische Beziehungsprinzip, das uns in der Regel als Pathologie aufgetischt wird. Menschen die „gesund“ übertragen, scheinen solche zu sein, „die gegen maligne Beziehungen am meisten immun sind“, Menschen also, „die mit ihrem okkulten Zwilling in einer diskreten Beziehung leben – sie haben den berühmten Schutzengel, zeitgemäßer gesprochen, sie passen gut auf sich selber auf“.[37]

Von dieser Übertragung lebt nicht nur die Liebe, sondern die Kreativität in der Welt: „Leider hat man sich im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs mit der Auffassung abgefunden, die Übertragungsliebe als einen neurotischen Mechanismus zu charakterisieren, der daran schuld ist, daß echte Leidenschaften meistens an falscher Stelle empfunden werden. Nichts hat dem philosophischen Denken so geschadet wie diese klägliche Motivreduktion, die sich zu Recht und zu Unrecht auf psychoanalytische Muster berief.“[38] Die Übertragung, die ein Ergebnis der dyadischen Urszene, der Beziehung des Kindes zur nährenden Plazenta und damit indirekt zu seiner Mutter ist, erscheint in der Sloterdijkschen Lesart als „die Formquelle von schöpferischen Vorgängen […], die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln“.[39]

*

Um zum Ausgangsthema zurückzukehren, wollen wir schließlich fragen, was passieren würde, wenn man die beschriebene dyadische Ursituation durch die Realisierung von maschinenähnlicher Menschenproduktion – etwa im Sinne Aldous Huxleys Brave New World[40] (was sicherlich immer noch Utopie ist) – ihrer natürlichen Dynamik berauben oder gänzlich beseitigen würde, wenn keine biologisch-lebendige Plazenta/Kind- bzw. Mutter/Kind-Beziehung mehr möglich werden kann, weil Menschen in synthetischen Tröpfen, in kühlen Räumen (z.B. in Reagenzgläsern und Flaschen), in Un-Sphären gezüchtet werden. Sloterdijk beantwortet diese Frage nicht. Aber wir können spekulieren: Solche Wesen – ob man sie Menschen nennen kann, mag ich nicht beurteilen – würden vermutlich sehr enge emotionale und kognitive Grenzen haben, denn ihnen fehlt das Übertragungsvermögen der frühsten Liebeserfahrungen auf alles spätere emotional bis zur Liebe Berührende und Sphären Schaffende. Denn – so Sloterdijk, und zwar frei nach Ludwig Wittgenstein:[41]„Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt.“[42]


[1]Dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass ich Sozialarbeiter geworden bin. Denn die Sozialarbeit beschäftigt sich in der klassischen Sichtweise mit denen, die von der Norm abweichen, mit den Devianten. Obwohl wir aus postmoderner Perspektive inzwischen wohl sagen können, Devianz ist normal, Abweichung zur Konformität geworden.

[2]Siehe zu diesen Thesen, die auch unter dem Titel Elmauer Rede bekannt geworden sind, Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

[3]Siehe zu solchen und ähnlichen Vorwürfen z.B. Thomas Assheuer, Zarathustra-Projekt, in: Die Zeit, 2. September 1999.

[4]Silvio Vietta, Sloterdijk, Heidegger und die Habermas-Schule, in: literaturkritik.de Nr. 10 – Oktober 1999, http://www.literaturkritik.de/txt/1999-10-23.html [16.10.2001], S. 2.

[5]Diese Möglichkeit werde ich weiter unter zumindest bezüglich der Chance einer eindeutigen Merkmalsplanung mittels genetischer Manipulation aus systemtheoretischer Sicht radikal infrage stellen.

[6]Peter Sloterdijk, Nachbemerkung, in: ders., Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus,Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 59f.

[7]Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, a.a.O., S. 41f.

[8]Peter Sloterdijk, Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, http://www.goethe.de/uk/bos/deutsch/programm/depslot2.htm [17.10.2001], S. 5.

[9]Vgl. hierzu Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke. Band XIV. Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt/M.: Fischer, S. 419-506.

[10]Ich denke diesbezüglich beispielsweise an die Unwahrscheinlichkeit der direkten instruktiven Interaktion von Erziehern, Therapeuten und Sozialarbeitern bezüglich ihrer „Schützlinge“. Vgl. dazu beispielsweise Heinz J. Kersting, Intervention: Die Störung unbrauchbarer Wirklichkeiten, in: Bardmann, Theodor M. u.a. (Hrsg.): Irritation als Plan: Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting 1991, S. 108-133.

[11]Peter Sloterdijk, Der operable Mensch. Anmerkungen zur ethischen Situation der Gen-Technologie, a.a.O.

[12]Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen. Mikrosphärologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998; ders., Sphären II. Globen. Makrosphärologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

[13]Peter Fuchs, Biologisch ausbuchstabiert. Wenn Metaphern Debatten beherrschen: Bemerkungen zu einer Suppe, die sich bei näherem Hinsehen als heißgerührte Kaltschale entlarven lässt – Zur Entzifferung des Genoms und anderen Problemen mit der Sprache, in: die tageszeitung, 11.7.2000, S. 14.

[14]Peter Fuchs, a.a.O.

[15]Ebd.

[16]Siehe ausführlich zu den interdisziplinären Voraussetzungen eines solchen systemtheoretischen Denkens Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984.

[17]Siehe wiederum Niklas Luhmann, a.a.O.

[18]Siehe zu dieser Unterscheidung Armin Nassehi, Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration. Die Theorie funktionaler Differenzierung und die Desintegrationsthese, in: Heitmeyer, W. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Band 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 113-148 oder auch Heiko Kleve, Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion. Eine Verhältnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht, in: Sozialmagazin, Heft 12/2000: S. 38-46.

[19]Peter Sloterdijk, Der Anwalt des Teufels. Niklas Luhmann und der Egoismus der Systeme, in: Soziale Systeme 1/2000, S. 38.

[20]Ebd.

[21]Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 23.

[22]Ebd.

[23]Peter Sloterdijk, Die Sphären des Peter Sloterdijk. 86. Sitzung der Humboldt-Gesellschaft am 22.06.1999. Lesung: Peter Sloterdijk, http://www.humboldtgesellschaft.de/inhalt.php?name=sphaeren [17.10.2001].

[24]Ebd.

[25]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 147.

[26]Ebd. 

[27]Ebd., S. 146.

[28]Ebd.

[29]Ebd., S. 139.

[30]Michel Houellebecq, Elementarteilchen, Köln: DuMont 1999, S. 278.

[31]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 18. 

[32]Ebd., S. 14.

[33]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, a.a.O., S. 168.

[34]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 419.

[35]Peter Sloterdijk; Hans-Jürgen Heinrichs, a.a.O., S. 168.

[36]Ebd.

[37]Ebd.

[38]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 14.

[39]Ebd.

[40]Aldous Huxley, Brave New World, London: Chatto & Windus 1932.

[41]Ludwig Wittgenstein äußerst im Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (5.6).

[42]Peter Sloterdijk, Sphären I, a.a.O., S. 14.

Der Einbruch der Freiheit – revisted

Die Illusion vom Kollabieren der Ost-/West-Unterscheidung in der Corona-Krise

Wenige Tage ist es her, da erinnerte ich mich wieder an den so genannten „Tag der Republik“. Der 7. Oktober war in der DDR ein Nationalfeiertag. Damit wurde an die Staatsgründung an eben diesem Tage im Jahre 1949 erinnert. Für mich ist dieser Herbsttag jedoch emotional vor allem verbunden mit meiner Teilnahme an der Freiheitsdemonstration in Berlin am 7.10.1989. Wir trafen uns an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz, liefen mit Zwischenstation am Palast der Republik, wo die Staatsführung geneinsam mit Michail Gorbatschow den 40. Jahrestag der DDR feierte, weiter zur Gethsemanekirche im Stadtteil Prenzlauer Berg. Diese Kirche hatte sich, wie viele ähnliche Orte in der gesamten DDR, zu einem Zentrum der friedlichen Proteste entwickelt. Von solchen Stätten, die es in der DDR der 1980er Jahre einige gab, ging die friedliche Revolution aus, die schließlich zum Einbruch der Freiheit in ein autoritäres realsozialistisches System führte.

Diesen positiven Freiheitseinbruch erlebten viele Menschen nicht nur meiner Generation euphorisch, hoch emotionalisiert und mit dem Willen, die neu gewonnenen Möglichkeiten des Lebens nicht nur zu genießen, sondern etwas daraus zu machen sowie sehr wachsam zu behüten. Daher erfuhr ich im März 2020 mit dem Ausrufen des ersten Lockdowns und den beginnenden Pandemie-Strategien der Politik, der Medien und Teilen der Wissenschaft geradezu eine Re-Traumatisierung, die ich in essayistischen Reflexionen zu bearbeiten versuchte (insbesondere hier: https://kure.hypotheses.org/846). Neben dem Gefühl, dass wir gerade in der Gefahr stehen, etwas zu verlieren, was wir DDR-Bürger erst 1989/90 durch friedliche Proteste errungen haben, nämlich die Freiheit, beschlich mich die Hoffnung, dass wir auch etwas gewinnen könnten, nämlich das Kollabieren der Ost-/West-Trennung. 

Ich vermutete, dass durch die aktuelle kollektive Erfahrung der Corona-Krise die Differenz zwischen Ossis und Wessis mehr und mehr eingeebnet wird. Diese uns sehr prägenden Erlebnisse der politischen und medialen Reaktionen auf eine Pandemie, so dachte ich, werden uns im Osten und Westen zusammenführen, auf ein Gemeinsames hin ausrichten. Die letzten noch trennenden Barrieren zwischen den Ost- und Westdeutschen werden damit einbrechen, und wir werden in einer jetzt endlich gefühlten Einheit, in neuer Gemeinsamkeit in die Zukunft gehen. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass diese Hoffnung wie eine Seifenblase zerplatzt ist. Die These vom Kollabieren der Ost-/West-Trennung im Kontext der gemeinsamen Bewältigung der Pandemie hat sich als Illusion offenbart.

Die Verarbeitung der pandemischen Freiheitseinschränkungen sowie die Bewertung der staatlichen Maßnahmen und ihrer Protagonisten in der Politik und in ihrer medialen Verkündigung scheinen im Osten und Westen jeweils recht unterschiedlich zu sein. Während ich die Verhältnismäßigkeit der Pandemiebekämpfung seit März 2020 grundsätzlich infrage stellte und mitbekam, dass diese in den neuen Bundesländern tatsächlich auch laxer umgesetzt wurde als in den alten, überkam mich schnell das Gefühl, dass hier alte Erfahrungen offenbar nach wie vor Wirkung entfalteten. Der Corona-Alltag fühlte sich in den neuen Bundesländern weniger rigide und anstrengend an als in den Ländern der alten BRD. Während man im Osten auch mal maskenlos öffentliche Innenbereiche betreten konnte, ohne gleich zur Ordnung gerufen zu werden, erlebte ich im Westen eine extreme Disziplin und bürgerliche Alltagsaufsicht beim Befolgen der so genannten AHA-Regeln.

Mein Vergleich zwischen der DDR und der gegenwärtigen deutschen Pandemie-Republik offenbart drei Muster, die ich als Gemeinsamkeit zwischen diesen Zeitepochen identifiziere und auf die Ostdeutsche, die die Freiheitserfahrung von 1989/90 bewusst erlebten, feierten und nutzten, mit äußerster Skepsis bis Ablehnung reagieren dürften (ausführlich dazu: https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/das-auferstehen-der-kontrollgesellschaft):

  • Erstens erlebten wir in der DDR und spüren auch jetzt die politische wie mediale Vorstellung, dass es möglich sei, komplexe bio-psycho-soziale Zusammenhänge objektiv zu erkennen und genauestens zu quantifizieren; nichts anderes wird uns mit absoluten, nicht ins Verhältnis gesetzten Corona-Zahlen unterschiedlichster Art nach wie vor täglich vergegenwärtigt.
  • Zweitens waren die Herrschenden in Ostdeutschland und sind es offenbar auch im pandemischen Deutschland von der Hybris getrieben, sie könnten durch autoritäre Maßnahmen komplexe Zusammenhänge kontrollieren. 
  • Und drittens wurden in der DDR sowie in den letzten eineinhalb Jahren grundsätzliche Kritikpositionen zu den vorherrschenden, politisch wie medial dominanten Perspektiven nicht nur aus dem Diskurs ausgegrenzt, sondern sogar moralisch, politisch und wissenschaftlich diffamiert.

Dass die Kontrolle eines respiratorischen Virus nicht möglich ist, weil dieses in komplexen bio-psycho-sozialen Zusammenhängen wirkt und jede entsprechende Kontrollintervention mit nicht-intendierten Effekten einhergeht, die grundsätzlich nicht prognostizierbar sind, offenbart beipielsweise das Scheitern der Zero- bzw. No-Covid-Strategien, insbesondere in Australien und Neuseeland. Ich plädiere jedoch nicht für ein Laissez-Faire im Umgang mit Corona, sondern für Maßnahmen, die kompatibel sind mit unseren gewachsenen liberal-demokratischen Prinzipien einer offenen und pluralistischen Gesellschaft (siehe dazu insbesondere die Vorschläge der Gruppe „Corona-Aussöhnung“, mit denen ich weitgehend übereinstimme: https://coronaaussoehnung.org). Das gilt schließlich auch für die Impfstrategie. 

Wer das Impfen wie in der aktuellen Weise bewirbt, es mit Verlockungen wie kostenlosen Bratwürsten, rigiden Sanktionen wie 2-G-Regeln oder angedrohtem Lohnstopp bei Quarantäne durchzusetzen versucht, muss sich nicht wundern, wenn die Menschen skeptisch werden, mit Ablehnung und Zweifel auch hinsichtlich dieser Maßnahme reagieren. Gerade im Osten, nicht nur Deutschlands, sondern in ganz Osteuropa, werden wir dann besonders vorsichtig und widerständig, wenn der Staat unsere persönliche Integrität infrage stellt, wenn er uns zu etwas zwingen will, wozu wir uns letztlich nur selbst, durch eigene rational reflektierte und emotional abgewogene Entscheidungen durchringen können, etwa zum Impfen. Und wenn wir uns dagegen entscheiden, dann erwarten wir, dass dies akzeptiert wird.

Wenn wir derzeit auf die Impfquoten der ostdeutschen Bundesländer oder der osteuropäischen Staaten schauen, dann können wir sehen, dass hier die Skepsis gegen diese bio-medizinische Maßnahme offenbar viel größer ist als in den westlichen Bundesländern und westeuropäischen Staaten. Ein Grund dafür scheint die Staatsskepsis zu sein, die Vorsicht gegenüber behördlich angepriesenen Maßnahmen, die in ihrer Rationalität offenbar vermischt sind mit anderen, etwa machtpolitischen oder pharmakologischen Interessen.

Mehr als eineinhalb Jahre nach Beginn der Corona-Krise wird deutlich, dass das Kollabieren der Ost-/West-Trennung keine Folge dieser Krise sein kann, wie ich im März 2020 noch hoffte. Was könnte dann ein positiver Ausblick sein in einer Zeit, die von weiteren Spaltungen, etwa zwischen geimpften und ungeimpften Menschen, belastet ist? Vielleicht ist es die Tatsache, dass die kommunikative Aufmerksamkeit innerhalb der hochkomplexen Gesellschaft wieder in andere Richtungen gehen wird. Das, was uns trennt, sind zumeist unsichtbare Grenzen, sind psycho-soziale Unterscheidungen, Marken, die wir selber setzen. Daher haben wir in unseren sozialen Begegnungen und Gesprächen die Macht, die Aufmerksamkeit in andere Richtungen zu lenken, das Verbindende zwischen uns, das, was uns aneinander sympathisch ist und positiv auffällt, zu fokussieren. Genau dieser Fokus, für den wir uns selbst in jedem Hier und Jetzt jeweils neu entscheiden können, nährt meine Hoffnung. Denn die Freiheit beginnt mit unseren eigenen Wahrnehmungen und ihren sozialen Wirkungen.

Der Einbruch der Freiheit, 1989 und 2020. Eine Momentaufnahme

Dieser Text wird erscheinen im Carl Auer-Band:  „Vom Träumen und Aufwachen – Zwischen Identität und Wandel – Auf Spurensuche“ (Heidelberg: 2020, ISBN ist 978-3-8497-0361-5), in Vorbereitung.

„Freiheit, Freiheit, ist das Einzige, was zählt.“

Marius Müller-Westernhagen

I.

Im Jahre 1989 fühlte ich mich als Teil einer Bewegung, die die individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten in Ostdeutschland erkämpft hat. Als knapp Zwanzigjähriger war ich mit auf den Straßen, etwa am 7. Oktober 1989 in Berlin an der Weltzeituhr. Wir demonstrierten zum Palast der Republik, in dem Michail Gorbatschow zusammen mit der DDR-Staatsführung den 40. Jahrestag des Landes feierte. Während der Demonstration skandierten wir „Freiheit, Freiheit“ und sangen die Internationale, die das Menschenrecht erkämpft.

Diese Demonstration, mein damals gesteigertes politisches Engagement und vieles Weitere, was diesem Erlebnis vorausging und in den Monaten und Jahren danach kam, hat sich tief in mein Denken, Fühlen und Wollen eingeprägt. Ich konnte von diesem Zeitpunkt an mein Leben anders leben, privat und beruflich, intellektuell und emotional, sowie Ziele erreichen, die ich in der Unfreiheit der DDR nicht hätte erklimmen können. Ich spüre die leidenschaftlichen Emotionen noch heute, wenn ich mich an diese Zeit erinnere. Damit ist Freiheit, und zwar in zahlreichen Hinsichten des Wortes, zu einem Wert für mich geworden, der mich in Kopf, Herz und Hand nachhaltig bestimmt, der mich in gesellschaftspolitischer Hinsicht zu einer konsequent liberalen Haltung geführt hat.[1]

Im Moment jedoch erleben wir eine Periode, in der die Freiheit (hoffentlich nur vorübergehend) verloren gegangen ist. Die politischen Reaktionen auf ein pandemisches Virus führten dazu, dass nahezu das gesamte öffentliche Leben still gestellt ist. Eine „Kontaktsperre“ ist ausgerufen. Wir sollen zuhause bleiben, um die Ausbreitung des Corona-Virus nicht zu befördern. Das Gesundheitssystem ist in diesen Zeiten offenbar das maßgebliche Gesellschaftssystem geworden, das die Politik in ihren Entscheidungen determiniert.

In einer solchen Zeit muss ich aufpassen, dass ich meine DDR-Vergangenheit in einem unfreien Land nicht mit der aktuellen Situation vermische, dass sich meine historischen und gegenwärtigen Erfahrungen nicht überlagern. Ich merke, wie ich mich anstrengen muss, dass mir bewusst bleibt, dass wir in einer liberal-demokratischen Republik leben, in der zwar gerade bestimmte Freizügigkeiten aus gesundheitlichen Gründen aufgehoben sind, dass die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland aber selbstverständlich nach wie vor gilt und funktioniert. Dennoch: 1989 brach die Freiheit in das Leben von uns DDR-Bürgern ein; und auch jetzt bricht die Freiheit ein, aber in der anderen Bedeutung dieser Formulierung.

Die aktuelle Krise macht mir deutlich, wie stark mein Denken und Fühlen von meiner DDR-Kindheit und Jugend geprägt ist. Die Erfahrung der Freiheit, wie sie für mich vor über 30 Jahren kam, und das Erlebnis, wie diese Freiheit jetzt (zumindest temporär) ging, wühlen mich auf. Genau davon werde ich im Folgenden berichten und Rechenschaft darüber ablegen, wie ich mich im Kontext dieser Freiheitserfahrungen derzeit reflektiere. Vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, in dieser intensiven Weise die DDR-Erfahrung zu thematisieren. Denn meine Vermutung ist, dass die Ost-/West-Unterscheidung in der Post-Corona-Zeit viel unwichtiger, vielleicht sogar bedeutungslos geworden sein wird. Möglicherweise werden unsere aktuellen Erlebnisse, die mit starken Emotionen der Verunsicherung und der Angst auf unterschiedlichen Ebenen unserer Existenz einhergehen, eine neue kollektive Erinnerung schaffen, die die Erfahrung der deutschen Teilung überlagern wird. Bald werden wir vor allem reden: über die Zeit vor und nach Corona. Aber was passiert eigentlich gerade, und wie reflektiere ich dies?

 II.

Es ist Ende März des Jahres 2020. Die Corona-Krise beschäftigt die ganze Welt. Ein neuartiges Virus der Art Corona infizierte ausgehend von Wuhan in China inzwischen weltweit tausende von Menschen.

Wir können es täglich in den Medien sehen, dass nicht nur in China, sondern auch in Europa, insbesondere in Italien und Spanien Krankenhäuser überlastet sind. Es sterben vor allem alte und gesundheitlich vorbelastete Menschen an Lungenentzündungen, die mit der Corona- bzw. Covid-19-Virusinfektion einhergehen. In Mittel- und Nordeuropa, Nord- und Südamerika, vor allem in den USA ist ebenfalls ein rasanter Anstieg der Zahl von Menschen zu konstatieren, die sich mit dem Corona-Virus angesteckt haben. Die Weltgesundheitsorganisation bewertet den aktuellen Zustand als Pandemie, als eine globale Seuche. Die Regierungen der einzelnen Nationen der Weltgesellschaft reagieren unterschiedlich auf diese Situation, aber tendenziell in einer Weise, die von den Virologen empfohlen wird: das gesellschaftliche Leben wird unterbrochen. Dennoch gibt es (noch) Länder, die es anders machen, etwa Schweden, Japan und Singapur. Dort gibt es Schutzmaßnahmen für die gefährdeten Bevölkerungsgruppen oder strikte Isolation von Infizierten bis zum Auskurieren der Infektion, aber das gesellschaftliche Leben geht in leicht eingeschränkter Weise weiter. Bei uns ist es anders: Hier steht derzeit nahezu die gesamte reale Öffentlichkeit still.

Die Menschen sollen ein Social Distancing praktizieren, was freilich keine soziale, sondern eine räumliche bzw. physische Distanzierung bedeutet. Sie sollen mindestens 1,50 Meter Abstand voneinander halten, um sich nicht gegenseitig mit dem Virus zu infizieren. Bestenfalls bleiben sie ganz zuhause. Die Schulen, die Universitäten, alle kulturellen Einrichtungen, Geschäfte (ausgenommen Lebensmittelverkauf, Drogerien, Apotheken und Baumärkte) sowie Restaurants und Bars sind geschlossen. Die Polizei und die Ordnungsämter achten darauf, dass sich die Bürger auf den Straßen nur einzeln oder maximal zu zweit aufhalten und den gebotenen Abstand zueinander beachten. Damit ist das Versammlungs- und Demonstrationsrecht aufgehoben. Zudem sind die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen worden. Der Flugverkehr ist weitgehend eingestellt. Die Freizügigkeit der Menschen hat ein vorläufiges Ende gefunden.

Das Ziel all dieser Maßnahmen ist, die Rate derjenigen zu minimieren, die sich mit dem Virus nahezu gleichzeitig anstecken. Denn das könnte unser Gesundheitssystem überlasten. Zwar verläuft die Covid-19-Infektion bei ca. 95 Prozent der Menschen harmlos, mit leichten bis mittleren Erkältungssymptomen. Aber bei ca. 5 Prozent kann mit schwereren Verläufen gerechnet, müssen in den Krankenhäusern besondere Behandlungen, z.B. künstliche Beatmungen vorgenommen werden.

Eine solche Pandemie führt dazu, dass staatliche Pandemiepläne in Aktion kommen, die die Freiheit der Menschen extrem einschränken. Stay at home lautet das Postulat, mit dem die politisch angeordneten Kontakteinschränkungen oder in einigen Regionen (etwa in Bayern) die Ausgangssperren einhergehen. Die Politik, die diese Maßnahmen entscheidet, anordnet und durchsetzt, wird derzeit vor allem von Virologen beraten, von Experten, für die die Eindämmung des Corona-Virus an erster Stelle steht. Mit dieser Begrenzung der Infektionen soll freilich das Leben von gefährdeten Menschen geschützt werden. Zudem gilt es, das Gesundheitssystem, insbesondere die Krankenhäuser und die dort arbeitenden Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal zu unterstützen, damit die Welle der schwer am Corona-Virus erkrankten Menschen nicht zu stark wird und alle die schwer betroffen sind, die Behandlung erhalten, die ihrem Zustand angemessen ist.

Das Ziel, die Gesundheit von Menschen zu sichern, ist selbstverständlich ein oberstes. Dafür sollte alles getan werden. Allerdings stellt sich die Frage, ob es nur einen Weg gibt, dies zu erreichen, der Lockdown der gesamten Gesellschaft. Aktuell erleben wir, wie die Politik, der Hauptstrom der Medien und die Bevölkerung einig sind, dass genau dies der Weg ist, der beschritten werden muss, um die Corona-Krise zu bewältigen. Ich empfinde diese Akzeptanz der Alternativlosigkeit als erschreckend. Mich katapultiert die Corona-Krise mit den von der Politik eingeleiteten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, durch die Berichterstattung in den Medien und der moralisch aufgeladenen Kommunikation im Internet in einen emotionalen Ausnahmezustand, der zwischen Angst, Wut, Aufregung und Neugier hinsichtlich der aktuellen Entwicklungen changiert. Mir ist es in der Tat ein Rätsel und es ängstigt mich, dass die Mehrheit der Bevölkerung die politischen Entscheidungen unwidersprochen akzeptiert.[2]

Es geht mir gar nicht darum, gegen diese Entscheidungen praktisch aufzubegehren. Denn auch in der aktuellen Situation erleben wir eine VUKA-Welt, also eine Situation, die von Volatilität, also von einer flüchtigen Geschwindigkeit der Ereignisse geprägt ist. Dies verunsichert, und zwar durch die Komplexität des gesundheitlichen Phänomens dieser Pandemie, die in ihrem Wirkungsgefüge vielschichtig und nie gänzlich erfasst werden kann. All dies führt zur Ambivalenz, zur Mehrdeutigkeit unserer aktuellen Welterfahrungen. Diese Mehrdeutigkeit wird bestenfalls akzeptiert, z.B. durch die Entwicklung unterschiedlicher Perspektiven des Denkens, Fühlens und Handelns. Genau das ist in der aktuellen Situation meine Intention: die angstgetriebene Gleichförmigkeit der Kognition und Kommunikation in der Gesellschaft aufzustören durch die Suche und Präsentation von Alternativen. Die Steigerung von Alternativität – das ist nach Peter Fuchs die systemische Minimalethik,[3] die wir jetzt üben sollten.

Woher kommen aber meine Intentionen und Bestrebungen, die getragen sind von der Unfähigkeit, einen Zustand auszuhalten, der sich auf eine Sicht, auf eine Strategie, auf eine Umgangsweise mit Corona/Covid-19 eingeschwungen hat?

III.

Ich führte es bereits aus, im Jahre 1989 war ich aktiv dabei, als wir in der DDR die Freiheit erkämpften – die Freiheit der Rede und Meinungsäußerung, die Freiheit des Versammelns und Demonstrierens, die Freiheit des Reisens, die Freiheit der Berufswahl, die Freiheit, dass jede/r nach ihrer/seiner Vorstellung im Rahmen der rechtlichen, ethischen und moralischen Grenzen sowie der allgemeinen Menschenrechte ihr/sein Leben gestalten kann sowie natürlich die Freiheit der gesellschaftlichen Systeme wie der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion etc. All diese Freiheiten gab es in Ostdeutschland nicht. Wir lebten in einer real-sozialistischen Diktatur. In einem Staat, dessen politisches Programm und staatliche Steuerungshybris die gesamte Gesellschaft zu bestimmen versuchten. Nur in den Nischen des Privaten und der Kirchen konnten zumindest Redefreiheiten erhalten werden. Aber die Öffentlichkeit war von Kontrolle und Bespitzelung durchdrungen. Das Jahr 1989 war eine euphorische Befreiung von Bevormundung und Gängelung. Erst jetzt konnten wir den Leitspruch der bürgerlichen Aufklärung gänzlich befolgen, nicht nur in unseren Gedanken, die bekanntlich frei sind, sondern auch in unseren öffentlichen Kommunikationen: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Immanuel Kant). Zu dieser Zeit brach also die Freiheit in mein Leben ein.

Während meiner Studien der Sozialen Arbeit und der Sozialwissenschaften entdeckte ich neue Konzepte, die mir halfen zu erklären, was in der DDR und in den anderen Ländern des Realsozialismus geschah und warum solche Systeme zum Scheitern verurteilt sind. Drei dieser Ansätze sind die soziologische Systemtheorie, die postmoderne Sozialphilosophie und der klassische wie der neuere Liberalismus.

Mit der soziologischen Systemtheorie konnte ich einen breiten sozialwissenschaftlichen Blick gewinnen und lernen, wie wir soziale Systeme betrachten können.[4] Für das Verständnis der DDR wurde mir augenscheinlich, dass bürgerlich-moderne Gesellschaften den realsozialistischen Staaten in nahezu allen Hinsichten überlegen sein mussten. Denn das, was die bürgerliche Moderne ausmacht, ist die Freiheit der gesellschaftlichen Systeme. Das heißt, dass sich Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion etc. nach jeweiligen Eigenlogiken entwickeln können und dass sie genau damit ihre beeindruckende Dynamik und ihren jeweiligen Erfolg entfalten können. In den Staaten des Realsozialismus waren nicht nur die einzelnen Individuen unfrei, sondern auch die gesellschaftlichen Systeme. Alle sozial-systemischen Prozesse von der Wirtschaft über die Wissenschaft, die Kunst und Kultur bis hin zur Religion wurden von der Politik dominiert. Wir lebten in einer staatlich zentrierten Gesellschaft. Der Staat, mit der Sozialistischen Einheitspartei (SED) an der Spitze, hat versucht, das gesamte gesellschaftliche Leben nicht nur zu überwachen, sondern zielgerichtet zu planen. Das ist eine Hybris, also eine Überschätzung und Überforderung, die zum Scheitern verurteilt war. Wir haben gesehen, dass nahezu alle Systeme in der DDR in ihrer Selbstentfaltung gehemmt und gebremst wurden. Das Scheitern war demnach systembedingt. Wir beobachten seit Jahren an China, dass die vermeintlich „sozialistische“ Politik dieses Landes ihr Überleben (zumindest vorerst) dadurch sichert, dass die Wirtschaft in ihre Eigenlogik entlassen wurde und extreme Wachstums- und Wohlstandseffekte zeitigen konnte.

Die postmoderne Sozialphilosophie, wie sie im deutschsprachigen Raum (im Anschluss an den französischen Diskurs) insbesondere Wolfgang Welsch vertritt,[5] zeigt den Nutzen der Akzeptanz von Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Differenz und Dissens für die Entwicklung von Gesellschaften auf. Die DDR war ein Land, das hinsichtlich der zerfallenen Gebäude und bezüglich der Äußerlichkeiten der Menschen recht grau war. Die Differenzen der Postmoderne jedoch blühen bunt und vielgestaltig. Wir leben unsere ganz unterschiedlichen Leben, erzählen unsere viele Geschichten, mit denen wir erklären und bewerten, wer und was wir sind. Diese Pluralität ist das Merkenzeichen der postmodernen Gemüts- und Geisteshaltung. Damit einher geht eine Akzeptanz für die Ambivalenz all unseres Denkens, Fühlens und Handelns. Denn das, was in uns kognitiv und emotional passiert, was wir aktional, also handelnd wollen, steht im Kontext von zahlreichen Alternativen: Wir könnten jederzeit auch anders. In einer freien Gesellschaft tragen wir genau dafür die Verantwortung, und zwar als Individuen im Kontext unserer engen lebensweltlichen Beziehungen, die wiederum eingerahmt sind von gesellschaftlichen Verpflichtungen und Erwartungen, die wir in all unseren Entscheidungen zu berücksichtigen haben. Dennoch sind wir frei, haben wir die Wahl im Rahmen differenter Möglichkeiten. Auch wenn dies mitunter eine Qual ist, weil sich mehrere Optionen offenbaren, zwischen denen wir ambivalent hin- und her pendeln, wollen wir diesen gewonnenen Zustand nicht wieder mit jenen eintauschen, der uns in der DDR in unserer Selbstentfaltung und Entscheidungsautonomie fesselte. Ich zumindest zahle den Preis der Freiheit sehr gerne: dass ich die volle Verantwortung für mein Leben trage.

Der klassische und neuere Liberalismus, der mir über die Lektüre von Sozialphilosophen wie Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises bekannt wurde,[6] verstärkt nochmals das, was Systemtheorie und Postmoderne – zumindest implizit – bereits verdeutlichen, nämlich den Wert der Freiheit. Freiheit ist demnach deshalb so wichtig, weil das Wissen dezentral verteilt ist. Das beste Beispiel dafür ist das System der Marktwirtschaft, das deshalb der Planwirtschaft des Realsozialismus derart überlegen ist, dass die Wirtschaft des Ostblocks in den 1980er Jahren kurz vor dem Zusammenbruch stand, weil es eben keine zentrale Steuerungsinstanz gibt. Die Relation von Angebot und Nachfrage lässt sich nicht von oben planen, sondern sie ergibt sich durch das selbstorganisierte Zusammenspiel unendlich vieler und gleichzeitig sich vollziehender Kaufentscheidungen. Diese Dezentralität von Entscheidungen ist in der modernen Gesellschaft in alle Systeme eingeschrieben. Kein System sollte über eine längere Zeit die Dominanz über die gesellschaftlichen Kommunikationen erhalten. Daher ist es wichtig, dass wir den aktuellen Zustand, den ich überspitzt und provokativ temporäre Gesundheitsdiktatur nenne, weil die prägenden politischen Entscheidungen dem Code „gesund/krank“ oder dramatischer: der Unterscheidung „Leben/Tod“ subsumiert werden, so schnell wie möglich überwinden. Denn im Normalfall ist unsere Gesellschaft von einem Liberalismus geprägt, der dafür sorgt, dass die systemisch verteilten sozialen Intelligenzen aller Sphären zum Zuge kommen können.[7]

 IV.

Meine biographischen Erfahrungen sowie meine theoretischen Interessen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben mich zu einem sehr engen Freund der Freiheit werden lassen, zu einem konsequenten Liberalen. Das heißt für mich, dass ich die Freiheiten in allen Lebens- und Arbeitsbereichen, in denen ich involviert bin, zu verteidigen versuche – nicht als ethischen Selbstzweck, sondern in der Überzeugung, dass Leben und Arbeiten besser werden, wenn sie in Freiheit geschehen. Das heißt zugleich, dass selbstverständlich jede/r auch mit der Verantwortung konfrontiert ist, die Konsequenzen der Entscheidungen, die in dieser Freiheit getroffen werden, zu tragen und zu diesen zu stehen. Diese Überzeugung hat mich dazu geführt, dass ich professionelle Hilfe, etwa als Soziale Arbeit oder als Beratung und Coaching, wofür ich als Theoretiker, aber auch als Coach, Vortragender und Dozent arbeite, ebenfalls liberal interpretiere.[8]

Das klassische Ziel professioneller Unterstützung ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Es geht darum, dass die Menschen, die beruflich erbrachte Fremdhilfe in Anspruch nehmen müssen, wollen oder sollen, so schnell wie möglich von dieser Hilfe wieder unabhängig werden. Ich plädiere hier für konsequentes Empowerment und radikale Orientierung an den Selbstgestaltungskräften der Nutzerinnen und Nutzer. Britta Haye, eine Professorin, die mich in meinem eigenen Studium sehr geprägt hat, pointierte uns Studierenden gegenüber regelmäßig den Satz: „Die Klienten wissen am besten, was gut für sie ist.“ Ausgehend von dieser Überzeugung arbeite ich mit an der Konstruktion von Theorien, Haltungen und Methoden, die es ermöglichen sollen, Menschen in ihrer Autonomie und Selbstentfaltung zu stärken.

Dies ist aber nicht nur eine theoretische und ethische Perspektive, sondern entspricht auch einem empirischen Phänomen, das ich die basale Ökonomie unserer Existenz nenne, nämlich die Reziprozität aller unserer Beziehungen: Wenn wir etwas nehmen, dann wollen wir etwas zurückgeben. Wenn wir etwas geben, dann können wir etwas nehmen. Diese Form der „‘Radikalen‘ Marktwirtschaft“, wie das Fritz B. Simon und Kollegen nennen,[9] bestimmt unser gesamtes Leben und Arbeiten. Für sozialprofessionelle Unterstützung heißt das, dass Menschen nicht nur Hilfe empfangen wollen, sie wollen selbst aktiv werden, selbst etwas geben, wieder in einen fließenden Reziprozitätsprozess hineinkommen. Wenn dieser Prozess jedoch ins Stocken gerät, dann sollten die Sozialprofessionellen ihre Strategien hinterfragen und sich neu orientieren.[10]

Auch mein Verständnis von Führung in Organisationen und Teams interpretiere ich in diesem Zusammenhang.[11] In der DDR haben wir trotz aller autoritären Gängelung und alltäglichen Bespitzlung gelernt, überall die Freiheit der Selbstbestimmung zu suchen, wir haben im Privaten wie Beruflichen Nischen aufgespürt, in denen wir uns selbst organisieren konnten. In dieser Weise entwickelten wir ein Gespür für das, was möglich ist. Nicht selten mogelten wir, taten wir so, als ob wir das befolgen würden, was offiziell von uns erwartet wurde, gehorchten dann aber doch unserer eigenen Kompetenz. Und diese hat uns zu anderen als den von „oben“ geforderten Entscheidungen und Handlungen geführt, bestenfalls zu solchen, die in den Kontexten, in denen wir Verantwortung trugen, weitaus passender waren als die hierarchisch angeordneten. Somit sehe ich auch hier und gerade für heutige Herausforderungen Dezentralität und Subsidiarität als wesentliche Ressourcen in Organisationen. Denn Entscheidungen sollten grundsätzlich dort getroffen werden, wo kompetente Verantwortungsträgerinnen und -träger am besten deren Wirkungen und Nebenwirkungen einschätzen können.

V.

Zurück zur gegenwärtigen Krise. Mir ist es wichtig, auch in der aktuellen Situation so frei wie möglich zu bleiben, selbst zu bestimmen, wie ich im Rahmen der politisch und rechtlich gesetzten Möglichkeiten, die zurzeit eingeschränkt sind, denke, fühle und handle. Die Autonomie und Selbstbestimmung über mein Leben lasse ich mir auch in Zeiten von Unsicherheit, Angst und Panik, die ich allenthalben in den noch offenen Geschäften, etwa beim Hamstern von Toilettenpapier, beobachte, nicht nehmen. Denn Autonomie und Selbstbestimmung sind in erster Linie Haltungen, für die wir uns bewusst entscheiden können – trotz aller gesellschaftlichen Zustände, die uns zweifellos tangieren und beeinflussen.

Eine wichtige geistige Übung ist dabei für mich: die Trennung des Vermischten, die Differenzierung von vergangener DDR-Erfahrung und aktueller gesellschaftlicher Situation in Zeiten von Corona. Davon habe ich eingangs bereits gesprochen: Ich erlebte also zweimal den Einbruch der Freiheit, einmal in positiver und einmal in negativer Weise, also in den beiden unterschiedlichen Bedeutungen dieser Formulierung. Aber das temporäre Schwinden der bürgerlichen Freiheiten in der gegenwärtigen Pandemie-Situation geschieht in einem demokratischen Staat mit frei gewählten Politikern, die eng mit der Bevölkerung verbunden sind. Das, was Karl Popper als ein zentrales Prinzip der offenen Gesellschaft bewertet, ist freilich nachhaltig etabliert: die derzeitige Regierung kann abgewählt werden.[12] Auch wenn sich die Emotionen überschlagen, die Vernunft kann trennen, separieren: zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Schließlich geht es darum, wieder in ein kreatives Denken zu kommen, das Alternativen zum aktuellen Zustand zu konstruieren in der Lage ist. Diesbezüglich sind Konzepte notwendig, die die Komplexität und die Zielkonflikte der aktuellen Situation berücksichtigen. Ein Verfahren, das dabei helfen könnte, ist das Modell des erweiterten Tetralemmas.[13] Damit lassen sich fünf Positionen vorstellen und durchspielen, bestenfalls ergänzt und angereichert durch eine Systemische Strukturaufstellung:

  • Die eine Position: Der Schutz der Gesundheit, insbesondere der Risikogruppen.
  • Die andere Position: Die Normalisierung der Gesellschaft, vor allem die Reaktivierung der bürgerlichen Freiheiten.
  • Beides: Die Suche nach Sowohl-als-auch-Strategien, wie beide genannten Ziele zugleich bzw. parallel realisiert werden können.
  • Keines von Beiden: Die Erkundung bisher noch nicht beachteter Kontexte, um Aspekte zu finden, die in der aktuellen Situation und angesichts der beiden genannten Ziele ebenfalls relevant sind und Lösungsvarianten ermöglichen könnten.
  • All dies nicht – und selbst das nicht: Die Öffnung für Veränderungen, Transformationen und Wandel ausgehend von der aktuellen Krise, die damit auch neue Chancen offeriert, um etwa Solidarität, Achtsamkeit und Sensibilität der Menschen untereinander in Freiheit zu befördern.

Eine Transformation könnte sein, dass wir in der Post-Corona-Welt die Ost-/West-Unterscheidung neu rahmen. Vielleicht wird diese Unterscheidung angesichts neuer Erfahrungen und brennender Probleme gänzlich in den Hintergrund treten. Bestenfalls schauen wir anders auf unsere Vergangenheit zurück und haben hoffentlich viel gewonnen. So wertschätzen wir wohl unsere bürgerlichen Freiheiten noch mehr als bisher, werden in neuer Weise, mit bewundernden Augen anblicken, was wir tun können: unser Leben frei zu führen.

[1] Siehe dazu etwa Heiko Kleve (2020a): Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit. Heidelberg: Carl Auer.

[2] Inzwischen werden zunehmend Alternativen zum aktuellen Shotdown diskutiert und überlegt, wie eine Exit-Strategie, vielleicht für nach Ostern, aussehen könnte. Siehe dazu z.B. sehr aufschlussreich Alexander Kekulé (2020):  Wege aus dem Lockdown. Risikogruppen stärker schützen, genug OP-Masken beschaffen und Smart Distancing – so beenden wir den Stillstand. Zeit Online vom 26. März 2020.

[3] Siehe dazu beispielhaft Peter Fuchs (2004): Die Moral des Systems Sozialer Arbeit – systematisch, in: Merten, R./Scherr, A. (Hrsg.), Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2004, S. 17-32. Dazu auch mein Eintrag im Carl Auer-Blog „Reduzierte Komplexe“ vom 19.03.2020: Heiko Kleve (2020b): Wenn in die Wirklichkeit die Realität einbricht. Covid-19 aus konstruktivistischer Perspektive, https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/wenn-in-die-wirklichkeit-die-realitat-einbricht.-covid-19-aus-konstruktivistischer-perspektive [29.03.2020].

[4] Siehe grundsätzlich dazu vor allem Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp und Ders. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

[5] Siehe etwa Wolfgang Welsch (1993): Unsere postmoderne Moderne. Akademie: Berlin.

[6] Siehe etwa Friedrich August von Hayek (1944): Der Weg zur Knechtschaft. Reinbek bei Hamburg: Lau/Olzog (2014) sowie Ludwig von Mises (1927): Liberalismus. Sankt Augustin: Academia (2006).

[7] Siehe aufschlussreich und vertiefend dazu: Armin Nassehi (2017): Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft. Hamburg: Murmann.

[8] Siehe nochmals Heiko Kleve (2020a), a.a.O.

[9] Fritz B. Simon/Conecta (2013): „Radikale“ Marktwirtschaft. Grundlagen des systemischen Managements. Heidelberg: Carl Auer.

[10] Siehe dazu noch einmal Heiko Kleve (2020a), a.a.O.

[11] Siehe dazu meinen Eintrag im Carl Auer-Blog „Reduzierte Komplexe“ vom 19.12.2019: Heiko Kleve (2020b): Führung zwischen Ost und West, https://www.carl-auer.de/magazin/komplexe/fuhrung-zwischen-ost-und-west [29.03.2020].

[12] Karl Popper (1945): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons. Band II: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen: Mohr Siebeck (1992).

[13] Siehe grundsätzlich zu diesem Modell: Matthias Varga von Kibéd/Insa Sparrer (2009): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg: Carl Auer. Mit Anwendungen für die Soziale Arbeit siehe: Heiko Kleve (2011): Aufgestellte Unterschiede. Systemische Aufstellung und Tetralemma in der Sozialen Arbeit. Heidelberg: Carl Auer.

Re-Integration des Psycho-Sozialen als Voraussetzung für die Bewältigung von Komplexität

Vor einigen Wochen hatte ich das große Glück, an einem gruppendynamischen Training in der Tradition von Kurt Lewin teilzunehmen. Solche Trainingsgruppen erleben derzeit eine Art Revival, obwohl sie für die Beteiligten sehr anstrengend sind. Denn in einer gruppendynamischen Trainingsgruppe, die in der Regel aus sieben bis zwölf Personen besteht, und über eine Woche mit sechs- bis siebenstündigen täglichen Trainings verläuft, geht es um nichts anderes als um das Erleben und Reflektieren der aktuellen Selbstorganisationsprozesse der Gruppe. So kann die Gruppe, die sich aus fremden Personen zusammensetzt, als ganz besonderes psycho-soziales Feld erfahren werden: nämlich als Raum von kognitiver Erfahrung, emotionaler Befindlichkeit und sozialer, kommunikativer Handlungsdynamik sowie als Reflexion all dessen. Weiterlesen „Re-Integration des Psycho-Sozialen als Voraussetzung für die Bewältigung von Komplexität“

Wiederentdeckung der Familie

Publiziert in: Lampenfieber, Staatstheater Cottbus, Nr. 29, 2011, S. 2.

Es ist gar nicht lange her, da wurde in den Sozialwissenschaften über den Abgang der Familie schwadroniert. Die Familie, so hieß es, sei ein Auslaufmodell. Immer weniger Menschen würden den Bund der Ehe eingehen, ein Leben lang zusammen leben und Kinder zeugen wollen. Außerdem steige die Zahl der Scheidungen kontinuierlich. Dass diese Feststellungen keineswegs falsch sind, zeigt bereits ein oberflächlicher Blick in die Statistiken. Dennoch kann daraus nicht geschlussfolgert werden, dass die Familie aufhöre zu existieren. Das Gegenteil ist eher der Fall: Familien vervielfältigen sich. Durch Scheidungen und das anschließende Neugründen von Partnerschaften entstehen neuartige familiäre Formen, so genannte Patchwork-Familien. Außerdem ist Familie mehr als der Alltagsverstand gemeinhin wahrhaben will, nämlich ein besonderes System. Dass dies so ist, können wir insbesondere dann sehen, wenn wir den gesellschaftlichen Rahmen betrachten, in dem sich Familie heutzutage vollzieht. Weiterlesen „Wiederentdeckung der Familie“

KEA-Prozess des Systemischen Aufstellens

Systemische Aufstellungen an Hochschulen verwirklichen die Vision eines ganzheitlichen Lernens, das Kognition, Emotion und Aktion (KEA) gleichermaßen einbezieht. Auf der Ebene der Kognition, der Erzeugung von Information und Wissen bieten Aufstellungen die Möglichkeit, Systeme zu simulieren, um so systemisches Wissen zu generieren, das aus den Relationen zwischen Elementen von Systemen hervorgeht. Die Ebene der Emotion wird durch Aufstellungen einbezogen, weil sie körperliche Erfahrungen anregen, die Auskunft darüber geben können, in welcher Weise systemische Prozesse zwischen Elementen als passend oder als unpassend bewertet werden können. Dies kann auf der Ebene der Aktion Handlungsimpulse freisetzen, die Systemveränderungen, also Modifikationen zwischen den Relationen von Systemelementen herausfordern. Damit offenbaren sich schließlich systemische Aufstellungen als qualitative Forschungsinstrumente, die eine systembezogene Exploration von komplexen bio-psycho-sozialen Prozessen ermöglichen und die Isomorphie aller Systeme veranschaulichen, die das menschliche Leben in seiner bio-psycho-sozialen Einbettung prägen.

 

Hayeks Kritik am Konstruktivismus – oder: Die Rettung des Konstruktivismus vor dem Konstruktivismus

Der Begriff „Konstruktivismus“ kann unterschiedlich verstanden werden. Daher wollen wir hier ein Konstruktivismus-Verständnis kritisieren und abwehren, das insbesondere in der sozialphilosophischen Perspektive des neueren Liberalismus, vor allem von Friedrich August von Hayek (1970) als äußerst problematisch bewertet wird. Demnach wird das Wort „Konstruktivismus“ „als spezifische Bezeichnung einer Einstellung [definiert], die bisher gelegentlich ungenau durch das vieldeutige und daher irreführende Wort Rationalismus bezeichnet worden ist“ (ebd.: 210). Der Grundgedanke der konstruktivistischen Auffassung, die Hayek kritisiert, lautet, „daß der Mensch die Einrichtungen der Gesellschaft und der Kultur selbst gemacht hat und [er] sie daher auch nach seinem Belieben ändern kann“ (ebd.). Diese Auffassung sei grundsätzlich abzulehnen. Weiterlesen „Hayeks Kritik am Konstruktivismus – oder: Die Rettung des Konstruktivismus vor dem Konstruktivismus“

System Compliance in Unternehmerfamilien

Konfliktprävention durch Beachtung elementarer Systemregeln

Unternehmerfamilien als „verdoppelte Familien“

Unternehmerfamilien sind besondere Systeme. Sie müssen zwei unterschiedliche Kulturen in sich vereinen. Zum einen sind sie, wie alle Familien, durch verwandtschaftliche, bestenfalls vertraute Beziehungen gekennzeichnet, die das private Leben ihrer Mitglieder rahmen und einbetten. Zum anderen jedoch sind sie mit geschäftlichen Anforderungen konfrontiert, denen sich klassische Familien nicht gegenüber sehen. Denn die Mitglieder von Unternehmerfamilien verfügen über unternehmerisches Eigentum, womit eine ganz besondere Verantwortung einhergeht. Daher können sich Unternehmerfamilien nicht nur eigendynamisch familiär entwickeln. Sie müssen sich zudem formal organisieren. Weiterlesen „System Compliance in Unternehmerfamilien“