Erstveröffentlichung in: „Das Gepfefferte Ferkel. Online Zeitschrift für systemisches Denken und Handeln“, Oktober 2001.
Einleitung: Staatliche Steuerungsdefizite in der Gesellschaft
Staatliche Akteure und jene, die deren Handeln beobachten, beschreiben, erklären und bewerten, scheinen in der Mehrzahl davon auszugehen, dass gesellschaftliche Vorgänge objektiv-real und, wenn man so sagen darf: zentral-perspektivisch erkannt werden könnten sowie entsprechend bestimmter Steuerungsvorstellungen zielgerichtet beeinflussbar seien. Dies könnte man zumindest vermuten, wenn man betrachtet, mit welchen Begriffen staatliche Bestrebungen, gesellschaftliche Vorgänge zu steuern, in den letzten Jahrzehnten zunehmend umschrieben werden: etwa mit „Steuerkrise“, „überlasteter Staat“ oder „Staatsversagen“. Alle diese Begriffe markieren offensichtlich defizitäre (Ausnahme-) Erscheinungen, z.B. ‘Krisen’ bzw. ‘Überlastungen’, oder sie unterstellen dem Staat, dass er bezüglich seiner Steuerungsaufgaben ‘versagt’. Mit anderen Worten, der Staat schafft etwas nicht, was er eigentlich schaffen müsste: die Gesellschaft dermaßen zu steuern, dass beispielsweise zentrale Probleme – etwa Arbeitslosigkeit, wachsende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen, zunehmende Verarmung von breiten Bevölkerungsschichten (sprich: Abhängigkeit von Sozialhilfe) oder die ökologischen Gefährdungen – einer Lösung zugeführt werden können.
Grundsätzlich wird offenbar davon ausgegangen, dass die Lösung der genannten Probleme vom Staat zu erfolgen hat. Und speziell eine Vorstellung, die von der Möglichkeit der zielgerichteten Steuerbarkeit der Gesellschaft durch den Staat ausgeht, kommt beim Scheitern dieser Steuerungsvorstellungen folgerichtig zu einer defizitären Sichtweise. Denn der Erfolg zielgerichteter Steuerung wird potentiell sozusagen als Norm(alfall) angenommen und der Nichterfolg dementsprechend als Abweichung verrechnet. Nur: Was passiert, wenn diese staatlichen Steuerungsdefizite nicht mehr als Ausnahme bewertet werden können? Was passiert, genauer gesagt, wenn das, was scheinbar als Normalfall gilt, nämlich die Möglichkeit, zielgerichtet staatlich zu steuern, zur Ausnahme wird und wenn als Ausnahme angenommene Situationen, in denen das Scheitern von staatlichen Steuerungsbestrebungen beobachtet werden kann, normal bzw. alltäglich werden?(1)
Eine Antwort auf diese Fragen könnte sein: das theoretische Werkzeug, welches Steuerung beschreibt, zu überprüfen und, wenn möglich, den sozialen Beobachtungen anzupassen. In diesem Sinne müssen also theoretische Erklärungen konstruiert werden, mit denen vorwissenschaftliche – z.B. von den Politikern oder anderen gesellschaftlichen Akteuren in den Medien geäußerte – Erfahrungen oder empirisch überprüfbare soziale Sachverhalte – z.B. wachsende Arbeitslosenzahlen, Kostenexplosionen in gesellschaftlichen Teilsystemen, Kriminalitätszuwachs u.ä. –, die das Scheitern bzw. die Grenzen staatlicher Steuerung belegen, wissenschaftlich hergeleitet werden können (2).
Und genau dies soll im Folgenden mittels systemtheoretischer, insbesondere auf die Arbeiten der Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann und Helmut Willke basierender Argumentationslinien versucht werden. Es geht mir mit diesen Zeilen darum, meine (systemtheoretische) These zu plausibilisieren, dass es unwahrscheinlich ist, dass staatliche Steuerungsbestrebungen in der Art und Weise wirken, wie sie von den staatlichen Akteuren intendiert wurden. Um diese These zu belegen, werden zunächst in sehr geraffter Weise einige zentrale Vorstellungen der sozialwissenschaftlichen Theorie selbstreferentieller Systeme referiert, die mir als Grundlage für die weiteren Abschnitte der Arbeit wichtig erscheinen (I.). Im Anschluss daran soll jenes Steuerungsverständnis, welches aus klassischen, d.h. handlungstheoretischen Konzeptionen resultiert, mit seinen Erklärungsdefiziten konfrontiert werden, um im weiteren zu zeigen, welche Erkenntnisgewinne verbucht werden können, wenn Steuerung systemtheoretisch erklärt wird (II.). Warum es in der politikwissenschaftlichen Debatte brauchbar ist, staatliche Steuerung systemtheoretisch zu reflektieren, soll dann in einem Abschnitt über die primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft deutlich werden (III.). Schließlich werden sich die letzten beiden Abschnitte mit der Frage beschäftigen, wie aus systemtheoretischer Sichtweise staatliche Steuerung aussehen könnte und von welchem (modifizierten) Selbstverständnis die Politik in diesem Zusammenhang ausgehen müsste (IV., V.).
I. Systemtheoretische Grundlagen
Niklas Luhmann hat mit seinem Werk Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie den Paradigmenwechsel in der allgemeinen Systemtheorie auf die systemtheoretisch orientierten Sozialwissenschaften übertragen (vgl. Luhmann 1984, S. 15ff.). Das neue Paradigma in der allgemeinen, vor allem durch die Biologie und die Kybernetik inspirierten Systemtheorie besteht insbesondere darin, dass die theoretischen Leitdifferenzen wechseln und dass von systemischer Umweltoffenheit auf operative Geschlossenheit und Selbstreferenz umgeschaltet wird (vgl. ausführlich dazu ebd., S. 30ff.).
Während in älteren Versionen der Systemtheorie von der bereits auf Aristoteles zurückgehenden (Leit-)Differenz Teil/Ganzes ausgegangen wurde, bildet in neueren systemtheoretischen Ansätzen die System/Umwelt-Unterscheidung den Ausgangspunkt aller weiteren Betrachtungen. Ein System wird daher als ein Zusammenhang von gleichartigen Operationen (biologischen Lebensprozessen bzw. psychischen Gedanken bzw. sozialen Kommunikationen) verstanden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Operationen abgrenzen bzw. unterscheiden (lassen). Dieser systemische Verweisungszusammenhang, der Operationen an Operationen desselben Typs anschließen lässt und damit ein System von seiner Umwelt – sozusagen durch zirkuläre Operativität – differenziert, wird als Selbstreferenz bezeichnet.
Soziale Systeme – und vor allem diese werden in den folgenden Abschnitten die Referenzsysteme sein – operieren auf der Grundlage von Kommunikation (vgl. ebd., S. 191ff.). Mit anderen Worten, die Elemente von sozialen Systemen sind Kommunikationen und deren Zurechnung als Handlungen (vgl. ebd., S. 240). In dieser systemtheoretischen Sichtweise werden also nicht Menschen oder Individuen als Teile sozialer Systeme betrachtet, sondern lediglich deren Handlungen – vorausgesetzt diese finden an die sozialsystemischen Kommunikationsprozesse Anschluss (3).
Erst durch Kommunikation erzeugte Sozialität ermöglicht (soziales) Handeln, das dann wiederum Kommunikation ermöglicht. Diese Zirkularität von Handlungs- und Kommunikationsprozessen kann sowohl auf der individuellen (handelnden) als auch auf der sozialen (kommunikativen) Seite interpunktiert werden. Während bei der Betrachtung der individuellen Ebene die psychischen Intentionen anvisiert werden können, die etwa einer spezifischen Handlung vorausgingen, lassen sich bei der Betrachtung der Kommunikation die ‘Wirkungen’ untersuchen, welche Handlungen in kommunikativen Prozessen zeitigen.
Bei dem Vergleich der Resultate beider Betrachtungen wird dann nicht selten deutlich, dass Handlungsintentionen inkongruent mit den sozial beobachteten ‘Wirkungen’ sind und sich quasi hinter dem Rücken der Akteure in kommunikative Muster einbinden, die nicht individuell bzw. psychisch intendierten, sondern sozial-systemischen Regeln folgen (vgl. ausführlich dazu Willke 1994, der dies an Beispielen aus der Interventionspraxis von Psychotherapie [S. 92ff.], Organisationsberatung [S. 140ff.] und Politik [S. 211ff.] exemplifiziert) (4).
Davon ausgehend, aber auch aus hier nicht näher darstellbaren, ausgesprochen abstrakt angelegten systemtheoretischen Argumentationslinien, lassen sich soziale Systeme als autopoietische Systeme beschreiben (vgl. ausführlich dazu: Luhmann 1984 oder Willke 1993).
Mit Autopoiesis wird die selbstorganisierte Eigendynamik von komplexen Systemen umschrieben, die auf der Ebene ihrer basalen Operation, also für den Fall sozialer Systeme: auf der Ebene der Kommunikation, strukturdeterminiert sind. Mit anderen Worten, nur Kommunikation und nicht etwa psychisch intendiertes oder individuell zurechenbares bzw. zugerechnetes Handeln kann Kommunikation determinieren, d.h.: Kommunikation organisiert und steuert sich selbst. Damit werden die Kausalitäten an den Grenzen von psychischen und sozialen Systemen gewissermaßen gebrochen, so dass Bewusstsein und Kommunikation nicht in einem sich gegenseitig determinierenden Verhältnis zueinander stehen – obwohl sich selbstverständlich psychische und kommunikative Prozesse wechselseitig voraussetzen, systemtheoretisch gesprochen: interpenetrieren (vgl. Luhmann 1984, S. 286ff.) bzw. strukturell gekoppelt (vgl. Luhmann 1990, S. 11ff.) sind. Autopoiesis bezeichnet weiterhin die „Organisation der Operationen eines Systems, durch welche alle Elemente eines Systems durch die selektive Verknüpfung der Elemente dieses Systems erzeugt werden“ (Willke 1993, S. 278). Die Diskussion um die Möglichkeit von Steuerung wieder explizit aufgreifend, kann zusammenfassend formuliert werden: Der Begriff der Autopoiesis bringt auf den Punkt, dass ein System „in der Tiefenstruktur seiner Selbsteuerung von seiner Umwelt unabhängig ist“ (ebd.). Von diesem Aspekt geht denn auch der systemtheoretische Steuerungsbegriff aus und unterscheidet sich damit grundlegend von seinem handlungstheoretischen Pendant.
II. Steuerung
Um einem Verständnis der massenmedial reflektierten und empirisch belegbaren ‘Steuerungskrise’ des Staates näher zu kommen, sollen nun die Implikationen expliziert werden, die mit unterschiedlich – handlungs- und systemtheoretisch – gefassten Begriffen von Steuerung einhergehen.
II.1 Handlungstheoretische Sichtweise
Wenn von Steuerung die Rede ist, dann wird zunächst in traditioneller und mithin handlungstheoretischer Weise an eine Subjekt/Objekt-Dichotomie (vgl. Bardmann 1991, S. 14ff.) gedacht: Ein Subjekt, das kann auch ein kollektiver oder organisierter Akteur wie etwa der Staat sein, versucht entsprechend seinen Intentionen, ein von ihm erkanntes Objekt, das vielleicht irgendwie problematisch erscheint, zielgerichtet (handelnd) zu beeinflussen. Solange dieses Steuerungshandeln gelingt, d.h. solange die Wirkungen, die das steuernde Handeln verursachen soll, eintreten, scheint diese Sichtweise von Steuerung, die von linearen Ursache/Wirkungs-Ketten ausgeht, zu passen. Erst wenn das zu steuernde Objekt sich dem intentionalen Handeln der Akteure entzieht, indem es sich nicht wie geplant verändert, gerät die traditionelle handlungstheoretische Vorstellung von Steuerung ins Schwanken, und die aufrechten Planer bzw. Steuerer geraten ins Stolpern (vgl. mit Bezug auf organisatorische Planungsprozesse Vogel 1991).
Wenn sich das steuernde Handeln auf Sozialsysteme bezieht, die, wie im letzten Abschnitt ausgeführt, als autopoietisch organisiert beschrieben werden können, dann kommen die Grenzen der Steuerung in den Blick. Derartige Systeme sind nämlich in der Regel, wie der Kybernetiker (zweiter Ordnung) Heinz von Foerster (1988) sagen würde: nicht-triviale und keine trivialen ‘Maschinen’. Nicht-Trivialität soll in diesem Zusammenhang heißen, dass ein soziales System – quasi wie eine ‘black-box’ – nach einer nicht von außen, nicht von individuellen Beobachtern erkennbaren komplexen Eigenlogik operiert. Diese komplexe Eigenlogik bewirkt beispielsweise, dass ein nicht-triviales autopoietisches Sozialsystem bei z.B. durch Handeln veränderten Umweltverhältnissen so viele verschiedene Zustände annehmen kann, dass eine Berechnung aller möglichen Zustände schon aus zeitlichen und auch aus kognitiven Gründen nicht realisierbar ist.
Die bei Steuerungsbestrebungen bezüglich nicht-trivialer autopoietischer Sozialsysteme beobachtbaren Phänomene werden etwa als unerwartete und/oder unerwünschte Steuerungsnebenfolgen, als Vollzugsdefizite oder als sich zerstörende Prophezeiungen bezeichnet (vgl. Luhmann 1988, S. 329)(5). Wer die besten Steuerungsabsichten hat, so könnte man diese Probleme auf den Punkt bringen, muss nicht auch immer das Beste erreichen, sondern ganz im Gegenteil: Er kann den Zustand, den er entsprechend seinen Kriterien positiv verändern wollte, (entsprechend seiner Kriterien oder denen anderer) verschlimmern.
II.2 Systemtheoretische Sichtweise
Die systemtheoretische Beschreibung von Steuerung stellt zunächst einmal klar, dass es sich bei allen Steuerungsbestrebungen um Versuche handelt, eine beobachtete Differenz zu minimieren (vgl. Luhmann 1988, S. 328). In diesem Sinne sollen, präzise gesagt, Sinndifferenzen minimiert bzw. verringert werden, z.B. die Ungleichheit von Mann und Frau, das Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die Unterschiedlichkeit von Stadt und Land, die Differenzen von arm und reich, gesund und krank, gebildet und ungebildet etc. (vgl. Bardmann 1991, S. 17).
Entgegen dem handlungstheoretischen Ansatz von Steuerung begreift die Systemtheorie das Steuern allerdings nicht im Sinne einer Subjekt/Objekt-Dichotomie. Obwohl Subjekte bzw. kollektive oder organisierte Akteure beobachten können, ob die Differenz, die sie minimieren wollten, auch minimiert wurde, können sie systemtheoretisch gesehen kein von ihnen gesondertes Objekt steuern. Vielmehr muss ihr steuerndes Handeln zum Teil des Objektes, besser gesagt: zum Teil des Prozesses (z.B. des nicht-trivialen autopoietischen Sozialsystems) werden, der gesteuert werden soll; nur dann kann es Wirkungen zeitigen (vgl. Bardmann, S. 14ff); wobei es allerdings unwahrscheinlich ist, dass diese Wirkungen jene sind, die von den steuernden Akteuren intendiert wurden. Mit anderen Worten, zwar kann das steuernde Handeln auf Personen zugerechnet werden, die von bestimmten Steuerungsintentionen ausgehen, seine Wirkung wird aber nicht durch personale Intentionen bestimmt, sondern durch die autopoietische Struktur und Dynamik der zu steuernden systemischen Prozesse selbst. Damit kann Steuerung genaugenommen nur Selbststeuerung sein; denn, wie im ersten Abschnitt bereits angeschnitten: die ursprünglichen Handlungen der personalen, kollektiven oder organisierten Akteure lösen sich im sozialen kommunikativen Kontext von deren Intentionen und können nur dann im (zu steuernden) Prozess etwas bewirken, wenn sie an dessen interner (kommunikativer) Dynamik anschließen.
Systemtheoretisch wird der Steuerungsbegriff also nicht (allein) mit Blick auf die steuernden Akteure hergeleitet, sondern vielmehr erweitert sich die Betrachtung, indem die Referenz eines selbstreferentiellen Systems zur Beobachtung gewählt wird, dessen Operationen nicht von außen determinierbar sind. Wie sich eine derartige abstrakte systemtheoretische Beschreibung, die scheinbar ein brauchbareres Beschreibungspotential von Steuerung als die handlungstheoretische Sichtweise entwickelt, weil sie die Genese der Steuerungsnebenfolgen erklären kann, mithin externe Steuerung als gänzlich unwahrscheinlich betrachtet, auf konkrete staats- und gesellschaftstheoretische Steuerungsfragen beziehen lässt, soll im nächsten Abschnitt Thema sein.
III. Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft – oder: Externe Unsteuerbarkeit gesellschaftlicher Funktionssysteme
Ein zentraler Aspekt, der in allen gesellschaftstheoretisch orientierten Arbeiten der systemtheoretischen Soziologie bzw. Sozialwissenschaft immer wieder problematisiert wird, ist die Kennzeichnung der modernen Gesellschaft als primär funktional ausdifferenziert (siehe etwa Bardmann 1991; Luhmann 1986, 1988, 1997; Mayntz u.a. 1988; Rosewitz/Schimank 1988; Willke 1989, 1992, 1993, 1994, 1995a,b). Funktionale Differenzierung unterscheidet sich von anderen, konkret: segmentären und stratifikatorischen Formen sozialer Differenzierung der Gesellschaft; die letztgenannten Differenzierungsformen waren in vormodernen Gesellschaften prägend; diese lassen sich entweder als (segmentär) in Stämme, Clans oder Familienverbände oder als (stratifikatorisch) in Schichten gegliedert beschreiben.
Die funktionale Differenzierung als primäre Differenzierungstypik der modernen Gesellschaft wird bereits durch den Begriff der ‘gesellschaftlichen Arbeitsteilung’ angedeutet. So hat etwa Max Weber die Spezifik der kapitalistischen Gesellschaftsformation, die auf dem Prinzip der ‘Rationalität’ gründe, herausgearbeitet (vgl. Willke 1989, S. 33). Die Rationalität, insbesondere die Zweckrationalität, deren Entwicklung mit der gesellschaftlichen Etablierung der protestantisch-calvinistischen Ethik einherging, verdrängte die traditionelle Wertrationalität und ermöglichte damit den Wandel der gesamten Gesellschaft. Nicht nur die Ökonomie konnte nun fast ungehindert ihre Eigendynamik entfalten, sondern auch gesellschaftliche Bereiche wie Wissenschaft, Erziehung, Religion, Familie oder Politik.
Funktionale Differenzierung verweist dementsprechend darauf, dass sich die Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme gliedert, die jeweils nach eigenen Kriterien, wenn man so will: nach eigenen Rationalitäten, ganz konkrete gesamtgesellschaftliche Funktionen ausführen, für die es keine anderen gesellschaftlichen Bearbeitungsmöglichkeiten gibt als die jeweils spezifisch funktionssystemischen. Jedes Funktionssystem operiert als nichttriviales autopoietisches Sozialsystem; womit sich jeweils funktionssystemspezifische Eigendynamiken herausbilden, die mittels binärer Codes und den dazugehörigen Kommunikationsmedien realisiert werden (6).
So geht es etwa in der Wirtschaft um die eindeutig zu entscheidende Frage, kann gezahlt werden oder nicht, im Rechtssystem um die Differenz von Recht und Unrecht, in der Wissenschaft um Wahrheit oder Unwahrheit von Erkenntnissen und in der Politik um die Macht (Regierung) oder Ohnmacht (Opposition), kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.
Neben der gesamtgesellschaftlichen Funktion, die Funktionssysteme wahrnehmen, sowie ihrer binären Codierung, die ihre interne Kommunikation sortiert, lässt sich das Modell der Autopoiesis bzw. der operativen Schließung heranziehen, um drei Aspekte auf den Punkt zu bringen – erstens:dass wirtschaftliche, rechtliche, wissenschaftliche oder politische Operationen eben nur in den jeweiligen Funktionssystemen Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Politik vorkommen und sonst nirgendwo in der Gesellschaft; zweitens: dass diese Operationen immer nur an andere Operationen des gleichen Typs anschließen können, die permanent neu hervorgebracht werden müssen, damit sich die Systeme kontinuieren können und drittens: dass die Dynamik der Funktionssysteme auch nur durch eigene Operationen determiniert werden kann.
Aus der These der funktional differenzierten Gesellschaft lassen sich wiederum drei – diesmal gesellschaftstheoretische – Aspekte bzw. Schlussfolgerungen ableiten. Erstens: Die exklusive Bearbeitung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben durch Funktionssysteme macht diese autonom bzw. immun gegenüber funktionssystemfremden Einflussfaktoren, d.h. die Systeme ‘verselbständigen’ sich (vgl. Mayntz u.a. 1988) bzw. werden unabhängig. Dieses Phänomen wird auch mit dem Begriff der Independenz bezeichnet. Zweitens: Die gesellschaftlichen Funktionssysteme sind jeweils aufeinander angewiesen, denn keines kann Funktionen eines anderen wahrnehmen; dieser Aspekt umschreibt die Steigerung der funktionssystemischen Interdependenzen (7).
Drittens: Es gibt keine Möglichkeit der gesellschaftlichen Reflexion außerhalb der Funktionssysteme. Damit lässt sich in der modernen Gesellschaft kein Zentrum oder keine Spitze mehr denken, die das gesamte System sozusagen überblicken oder steuern könnte (8).
Die moderne Gesellschaft erscheint als heterarchisch bzw. polyzentrisch organisiert (vgl. Willke 1992) – polyzentrisch organisiert deshalb, weil in jedem Funktionssystem die eigene Perspektive gewissermaßen als die zentrale gesellschaftliche Perspektive gelten kann. Denn kein Funktionssystem kann beobachten, wie die anderen Funktionssysteme die Gesellschaft beobachten; es bleibt auf seine eigenen Beobachtungen (9) angewiesen.
So erscheinen gesellschaftliche Zustände in jedem Funktionssystem auf jeweils spezifische Weise – um einige Beispiele von Theodor M. Bardmann (1991, S. 24) zu zitieren: „der Rosenkauf steht in der Wirtschaft für eine Geldzahlung und in Intimbeziehungen für einen Liebesbeweis; die Rede des Kanzlers bedeutet in der Politik Wählerstimmenverlust (oder – gewinn) und im Bereich der Massenmedien vielleicht ein unterhaltsames Kuriosum; eine Aussage kann in der Religion als Gotteslästerung und in der Wissenschaft als nachprüfbare Wahrheit behandelt werden“. Eine diese verschiedenen Beschreibungen transzendierende Beschreibung auf einer den Funktionssystemen übergeordneten Ebene der Gesellschaft lässt sich systemtheoretisch gesehen nicht mehr erkennen.
Davon ausgehend kann formuliert werden, dass die Möglichkeit einer staatlichen Steuerung der Gesellschaft, verstanden im Sinne der handlungstheoretischen Beschreibung, schon deshalb problematisch ist, weil auch der Staat nicht ein zentraler oder hierarchisch über andere Funktionssysteme angeordneter Akteur sein kann. Auch der Staat befindet sich nicht als handlungsfähiger kollektiver oder organisierter Akteur außerhalb der Gesellschaft. Aber was ist systemtheoretisch gesehen der Staat überhaupt? Welchen Platz hat dieser in der Theorie funktionaler Differenzierung, die zwar von einem politischen Funktionssystem spricht, aber nicht von einem staatlichen?
III.1 Zum Verhältnis von Staat und Politik
Zunächst sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Politik in der systemtheoretischen Betrachtung als ein gesellschaftlich ausdifferenziertes Funktionssystem beschrieben wird, in dem Kommunikationen in der Form von kollektiv verbindlichen Entscheidungen produziert und prozessiert werden – „z.B. Entscheidungen darüber, wer in einer Gesellschaft unter welchen Bedingungen physische Gewalt ausüben und wer unter welchen Bedingungen staatliche Gewalt für seine privaten Zwecke einsetzen darf“ (Willke 1996, S. 686).
Genauso wenig wie die Politik in der systemtheoretischen Betrachtung in externer Unterscheidung zur Gesellschaft gedacht wird, ist in diesem Sinne der Staat als ‘Subjekt’ denkbar, das dem ‘Objekt’ Gesellschaft (hierarchisch auf einer höheren Stufe) gegenübersteht. Vielmehr wird der Staat in die Gesellschaft, genauer: in das politische System hineingeholt und dient diesem (intern) als Modell zu dessen Selbstbeschreibung (vgl. Luhmann 1980; Willke 1992, S. 213; 1996, S. 687) und den anderen Funktionssystemen oder ‘lebensweltlichen’ Kommunikationen als (externe) Möglichkeit, politische Entscheidungen auf handelnde Akteure zuzurechnen (Willke 1992, S. 213; 1996, S. 687).
Bezüglich der ersten Funktion des Staates als ein Konstrukt zur Selbstbeschreibung der Politik in Form von verschiedenen Modellen können dann Staatsformen wie absolutistischer Staat, liberalistischer (‘Nachtwächter’-)Staat, Verfassungsstaat, Interventionsstaat oder Wohlfahrtsstaat unterschieden werden. Diese unterschiedlichen Modelle des Staates kennzeichnen die Organisation des Treffens kollektiv verbindlicher Entscheidungen sowie die Form der Selbstlegitimation von Politik. Die Frage der (Selbst-) Legitimation von Politik und damit von Macht trat mit dem Zerfallen der Vorstellung einer von Gott gegebenen Herrschaft auf die Tagesordnung. Eine Antwort waren die klassischen Vertragstheorien nach Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau, die allerdings die Regeln, nach denen Politik gemacht werden soll, noch nicht legitimieren konnten (10).
Die Legitimation der politischen Regeln ließ sich erst durch eine Binnendifferenzierung des politischen Systems realisieren (11), und zwar in einen Bereich, der die kollektiv verbindlichen Entscheidungen produziert: das Parlament und die Regierung; in einen Bereich, der diese Entscheidungen zur Anwendung bringt: die öffentliche Verwaltung; und schließlich in einen Bereich, der auf die Konflikte, welche aus diesen Entscheidungen und deren Anwendung resultieren, reagiert: das Rechtssystem.
Mit dieser Binnendifferenzierung wurde ein zirkulärer Prozess der Legitimation der politischen Herrschaft etabliert: „Die Politik legitimiert das Recht, das Recht legitimiert das Handeln der Verwaltung und der Bürger, die Bürger legitimieren die Politik usw.“ (Willke 1996, S. 687f.).
Die zweite (politische) Funktion des Staates, die aus der Notwendigkeit der Zurechnungsmöglichkeit von kollektiv bindenden Entscheidungen auf handelnde Akteure folgt, markiert, dass Personen, kollektive oder handelnde Akteure für politische Entscheidungen verantwortlich gemacht werden können. Nur so kann trotz der Ausdifferenzierung eines politischen Systems, das mittels dem symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium Macht autopoietisch, also unabhängig, eigendynamisch, strukturdeterminiert, wenn man so will: ‘entfremdet’ von den Menschen operiert, das Netz der Kommunikationen zerschnitten und etwa eine politische Entscheidung auf eine Person oder eine Organisation zugerechnet werden. In dieser Hinsicht ist es allerdings, dies sei nebenbei betont, eher ineffektiv, nach Schuldigen für gesellschaftliche Steuerungsdefizite oder Zustände zu suchen, die als ‘Missstände’ bewertet werden. Denn bei der Identifizierung von Schuld wird die Komplexität eines sozialen Prozesses, der niemals einseitig individuell determinierbar ist, so reduziert, dass möglicherweise die Vernetzungen und gegenseitigen Abhängigkeiten ‘ganzheitlicher’ Zusammenhänge aus dem Blick geraten. Veränderungen, so scheint es jedenfalls durch die systemtheoretische Brille auszusehen, lassen sich nicht durch die Suche nach Schuldigen und dem damit möglicherweise einhergehenden Auswechseln von Personen realisieren, sondern nur durch strukturelle, sozial-systemisch angesetzte Interventionen (vgl. ausführlich dazu Willke 1994).
Zusammenfassend lässt sich mit Willke (1996, S. 688) sagen: „Der Staat ist eine Hilfskonstruktion der Politik, wenngleich eine folgenreiche. Funktionen des Staates verweisen auf primäre Funktionen der Politik in einer Gesellschaft“. Eine primäre Funktion der Politik scheint nun auch der Versuch zu sein, in gesellschaftliche Prozesse staatlich steuernd einzugreifen, um etwa das Problem der Gewalt, das Problem der Armut und das Problem der Ignoranz, d.h. des Umgangs mit gesellschaftlich notwendigem Wissen zu bearbeiten (vgl. Willke 1992, S. 211ff.; 1996, S. 688ff.) (12).
Wenn aber die Politik als gesellschaftliches Funktionssystem vorgestellt wird, das – wie alle anderen Funktionssysteme ebenso – eigendynamisch operiert, wodurch nicht zuletzt Steuerungsintentionen an den funktionssystemischen Grenzen abprallen, wie ist dann in systemtheoretischer Sicht gesellschaftliche Steuerung und Regulierung überhaupt noch denkbar? Dieser Frage möchte ich mich im nächsten Abschnitt zuwenden.
VI. Systemtheoretische Steuerungsmodelle
Wenn wir uns nun auf dem Hintergrund des bereits Referierten noch einmal die systemtheoretische Vorstellung von Steuerung vor Augen halten, dass also Steuerung nur möglich ist, wenn das steuernde Handeln selbst zum Teil des Systems wird, das gesteuert werden soll, dann lässt sich zunächst formulieren: Gesellschaftliche Steuerung ist nur als Selbststeuerung der Funktionssysteme möglich. Funktionssysteme reagieren zwar auf Veränderungen in ihrer sozialen Umwelt, in denen die jeweils anderen Funktionssysteme operieren, aber auf selbstkonstituierte, sozusagen system- und nicht umweltkausale Weise. Diesen Aspekt betont denn auch vor allem Luhmann (1986 oder 1988, S. 324ff.), wenn er die Grenzen der gesellschaftlichen Steuerung herausstellt, die sich insbesondere mit der Autopoiesis der Funktionssysteme beschreiben lassen.
Was allerdings aus dieser gesellschaftstheoretischen Diagnose für die staatlichen Steuerungsprogramme der Politik folgt, die sich ja aus den originären Aufgaben des Staates ergeben, der die Bürger, wie Willke (1992, S. 211ff.; 1996, S. 688ff.) ausführt, vor systemisch, mithin nicht individuell bedingten „Gefährdungen von Leib und Leben“ (Willke 1996, S. 704) zu schützen hat, lässt Luhmann weitgehend offen. Dennoch erwähnt er eher am Rande einen wesentlichen Aspekt der Möglichkeit von staatlicher Beeinflussung der Funktionssysteme: Die Politik könnte nämlich über die Schaffung von Bedingungen, die sich auf die Programme und damit auf die Selbststeuerung der Funktionssysteme auswirken, indirekt versuchen zu steuern (vgl. Luhmann 1988, S. 346). Speziell an diesem Punkt lassen sich Willkes Konzepte der dezentralen Kontextsteuerung anschließen. Wie im Folgenden deutlich werden könnte, scheint Willke die Intention zu haben, die gesellschaftstheoretischen Beschreibungsmöglichkeiten der Systemtheorie nicht nur diagnostisch, sondern auch pragmatisch, wenn man so will: therapeutisch relevant einzusetzen. Denn für ihn lässt sich mittels systemtheoretischer Analysen brauchbar auf die neuen Herausforderungen des heutigen Staates reagieren. Diesbezüglich schlägt Willke sozusagen einen dritten Weg von staatlicher Steuerung vor, der sich weder an das ‘Laisserfaire’ des sogenannten Nachtwächter-Staates noch an die autoritative Vorstellung einer staatlichen Gesamtplanung anschließt (vgl. Willke 1992, S. 310ff; 1995a, S. 3; 1996, S. 705): die dezentrale Kontextsteuerung.
Kontextsteuerung bedeutet zunächst zweierlei: zum einen „die reflexive, dezentrale Steuerung der Kontextbedingungen aller Teilsysteme“ (Willke 1989, S. 58) und zum anderen „die selbstreferentielle Selbststeuerung jedes einzelnen Teilsystems“ (ebd.). Gerade die Politik hätte diesbezüglich ein Staatsverständnis zu entwickeln, das derartige Steuerungen ermöglicht und nutzt. Kontextsteuerung kann beschrieben werden als die Veränderung bzw. Beeinflussung von relevanten Umweltfaktoren der Funktionssysteme, um diese hinsichtlich ihrer Selbststeuerung zu beeinflussen, beispielsweise lässt sich eine derartige Steuerung schon über die Regelung der finanziellen Zuwendungen für die Funktionssysteme realisieren.
Bevor ich auf die spezifische Form der dezentralen Kontextsteuerung nach Willke eingehe (VI.2), möchte ich eine bedeutende Möglichkeit nennen, die ebenfalls über die Veränderung der Umweltbedingungen der Funktionssysteme auf diese wenn nicht steuernd, dann aber doch auf jeden Fall beeinflussend wirken kann: die staatlich gesteuerte Verringerung oder Erhöhung der finanziellen Zuwendungen für funktionssystemische Aufgaben (z.B. im Erziehungs- und Gesundheitssystem oder im System sozialer Hilfe) (vgl. mit Bezug auf Luhmann Rosewitz/Schimank 1988, S. 301f.).
VI.1 Geld als Mittel kontextueller Steuerung
Alle Funktionssysteme sind darauf angewiesen, „Geld gleichsam als ‘Energie’ zu verbrauchen“ (ebd.), so dass jedes Teilsystem mit jedem anderen um die knappen finanziellen Ressourcen konkurriert. Dementsprechend hat die staatlich gesteuerte Verringerung oder Erhöhung der finanziellen Zuwendungen auf die Realisierung der Programme von Organisationen, die sich bestimmten Funktionssystemen zurechnen, einen entscheidenden Einfluss. Allerdings lässt die Steuerung über die Regelung der finanziellen Zuwendungen zugleich auch große Schwächen sichtbar werden; sie beeinflusst die Funktionssysteme nämlich nur quantitativ und niemals qualitativ und kann nicht konkret darauf einwirken, wie funktionssystemintern mit dem Sachverhalt der veränderten Geldmenge umgegangen wird.
VI.2 Dezentrale Kontextsteuerung
Eine weitaus ausgereiftere Form der Kontextsteuerung als jene über Geld schlägt Willke mit der dezentralen Kontextsteuerung vor (vgl. etwa Willke 1992, S. 57ff./127ff.). Dezentrale Kontextsteuerung macht sozusagen aus der Not der funktionalen Differenzierung und Verselbständigung, die keine staatliche Spitze oder kein politisches Zentrum der Gesellschaft mehr zulässt, in dem eine verbindliche gesamtgesellschaftliche Reflexion und mithin Planung möglich wäre, eine Tugend: die Tugend einer wechselseitigen Abstimmung, eines Diskurses der Funktionssysteme untereinander, mit dem Ziel, sich jeweils mit dem Blick auf die Funktionsweise der anderen selbst zu steuern. Damit wird zunächst einmal der Politik die alleinige Verantwortung für gesellschaftliche Steuerung genommen; denn diese überfordert sich – was systemtheoretisch sehr plausibel sichtbar wird – permanent selbst (vgl. Luhmann 1980, S. 289), so dass in der öffentlichen Meinung dann Begriffe wie ‘Unregierbarkeit’, ‘Legitimationskrise’, ‘Steuerkrise’, ‘Staatsversagen’ etc. diesen Sachverhalt beschreiben.
Bei der dezentralen Kontextsteuerung kann die Politik nicht viel mehr steuern als ihre eigene Funktionsweise als Kontextbedingung für die anderen Funktionssysteme. Ein Instrument dafür ist z.B. das sogenannte ‘reflexive Recht’ (vgl. Willke 1992, S. 53; Rosewitz/Schimank 1988, S. 303ff.). Bernd Rosewitz und Uwe Schimank (1988, S. 303) sehen die Aufgabe des reflexiven Rechts zunächst in einem Verzicht der staatlichen Rechtssetzungen, „substantielle Entscheidungskriterien für die Regulierung gesellschaftlicher Konflikte bereitzustellen“. Die Lücke, die durch den Verzicht von staatlich-administrativ vorgegebenen Entscheidungskriterien entsteht, soll durch die Schaffung von Verhandlungssystemen und -verfahren aufgefüllt werden, „in deren Rahmen dann die betreffenden gesellschaftlichen Teilsysteme ihre Konflikte autonom regulieren“ (ebd.) (13).
Gesellschaftstheoretisch abstrakt formuliert: Das reflexive Recht soll gewährleisten, dass die zentrifugale Dynamik gesellschaftlicher Differenzierung sich nicht derart zuspitzt, dass die gesellschaftliche Integration der Subsysteme, die für den Erhalt der Gesellschaft notwendig ist, vollends gesprengt wird. Reflexives Recht zielt also darauf ab, dass die Rationalität der Teile, d.h. der Funktionssysteme nicht zu einer destruktiven Irrationalität des Ganzen, also der Gesellschaft pervertiert. Ohne eine Entdifferenzierung der Gesellschaft zu intendieren, sondern im Gegenteil: die Ressourcen der gesellschaftlichen Differenzierung ausnutzend, ist reflexives Recht als System von Rahmenregeln zu verstehen, für dessen Schaffung das politische System zuständig ist und das die Abarbeitung interfunktionssystemischer Konflikte mit einer Reflexion auf die Systemintegration verbindet.
Beispiele für die Anwendung von reflexivem Recht wären die Tarifautonomie im Wirtschaftssystem oder der Wissenschaftsrat, in dem sich Vertreter des Wissenschafts-, Wirtschafts- und Politiksystems begegnen und ihre Konflikte ohne zentrale staatliche Kontrolle, aber entsprechend bestimmter rechtlich fixierter Verhandlungsmuster zu regeln versuchen (vgl. Rosewitz/Schimank 1988, S. 303). Des weiteren gilt eine bestimmte Beziehung des Rechtssystems zum Wissenschaftssystem als Beispiel: Immer wenn in Fragen der Technik und Wissenschaft oder der Erziehung (‘Wohl des Kindes’) gutachterlicher Sachverstand der Experten vom Gericht herangezogen wird, um Recht zu sprechen, kommt es zu einer wechselseitigen Abstimmung von Funktionssystemen (vgl. Willke 1992, S. 330f.). Diese wechselseitige Abstimmung tastet die funktionssystemische Autonomie nicht an; denn nicht die wissenschaftlichen Experten sprechen Recht, sondern nach wie vor die Gerichte. Vielmehr führt dieses Verfahren zur Selbstdistanz der jeweiligen Akteure und zum Versuch, sich in die jeweilige funktionssystemische Rolle des anderen hineinzuversetzen.
Zusammenfassend kann formuliert werden, dass die dezentrale Kontextsteuerung der Versuch ist, die funktionale Differenzierung nicht zu minimieren, sondern ihre Chancen zu nutzen, allerdings mit dem Ziel der Erhöhung der Reflexivität der Funktionssysteme, um ihre Selbststeuerungskapazitäten zu maximieren. Denn die Möglichkeit der Selbststeuerung ist eine Voraussetzung für die Anwendung des reflexiven Rechts, so dass der folgende Aspekt, die reflexive Selbststeuerung der Funktionssysteme, eigentlich mit einer erfolgreichen Anwendung reflexiven Rechts einhergehen muss.
VI.3 Reflexive Selbststeuerung der Funktionssysteme
Die reflexive Selbststeuerung wurde bereits von Luhmann vorgeschlagen, der in seinem Werk Soziale Systeme darauf eingeht, dass ein Funktionssystem, das sich rational verhalten will, die Reaktionen, die es bei anderen Funktionssystemen auslöst, mit zu beobachten hat, indem es nämlich „seine Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf es selbst kontrollieren muss“ (Luhmann 1984, S. 642; vgl. auch Rosewitz/Schimank 1988, S. 302). Die Rationalität der Selbststeuerung der Funktionssysteme besteht also darin, dass diese mitreflektieren, dass ihre Unabhängigkeit von den anderen Funktionssystemen den paradoxen Effekt hat, zugleich ihre Abhängigkeit von diesen zu steigern (siehe Abschnitt III). Da jedes Funktionssystem sich auf die Bearbeitung nur eines ganz bestimmten gesellschaftlichen Problems spezialisiert hat – z.B. der Produktion von Gütern bzw. Regulierung von Knappheit (Wirtschaftssystem), der Erziehung von Kindern (Erziehungssystem), der Heilung von Kranken (Gesundheitssystem), der Betreuung von sozial Benachteiligten (System Soziale Hilfe/Arbeit), der Sprechung von Recht (Rechtssystem) oder der Produktion von kollektiv bindenden Entscheidungen (Politiksystem) – ist die Funktionsfähigkeit jedes einzelnen Funktionssystems davon abhängig, dass auch die anderen funktionsfähig sind. Mit anderen Worten, die Funktion eines gesellschaftlichen Teilsystems ist nur erfüllbar, wenn auf Leistungen der anderen Teilsysteme zurückgegriffen werden kann.
Reflexive und mithin rationale Selbststeuerung würde also heißen, dass die Funktionssysteme mit dem Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit ihres eigenen Funktionierens die Sicherung der Funktionsweise der anderen Systeme ebenfalls beachten (vgl. Willke 1992: S. 120ff.). Sie machen ihre eigenen Entscheidungen in diesem Sinne nicht nur von selbstreferentiellen Kriterien abhängig, sondern sie öffnen sich für fremdreferentielle Einflussgrößen ihrer gesellschaftlichen Umwelt.
Beispielsweise könnte diesbezüglich an eine Reflexion auf fremdreferentielle Bedingungsfaktoren für die Produktion von Wissen innerhalb des Wissenschaftssystems gedacht werden (vgl. Rosewitz/Schimank 1988, S. 302f.). In Anbetracht der Tatsache, dass Wissenschaft von Geld abhängig ist, das vom Wirtschaftssystem (in der Regel über den Umweg staatlicher Zuwendungen, die aus den Steuereinnahmen resultieren) in das Wissenschaftssystem transferiert wird, wäre es für wissenschaftliche Forschung rational, sich stärker auf außerwissenschaftliche, in diesem Falle: ökonomisch relevante Nutzkriterien einzulassen. Denn schließlich ist die Funktionsfähigkeit der Wissenschaft trotz ihrer autopoietischen Organisation, trotz „Freiheit von Forschung und Lehre“, auf die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft der Gesellschaft, da sie deren finanzielle Leistungen benötigt, angewiesen. Sicherlich ließen sich viele weitere Beispiele finden, die die funktionale Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche bei gleichzeitiger wechselseitiger leistungsbezogener Heteronomie belegen und diesbezüglich eine reflexive Selbststeuerung herausfordern. Ohne in diesem Zusammenhang auf weitere Beispiele eingehen zu können, die Selbststeuerungskapazitäten von Funktionssystemen untersuchen bzw. belegen (siehe dazu Rosewitz/Schimank 1988, S. 304ff.), möchte ich die Spezifik der reflexiven Selbststeuerung noch einmal explizit auf den Punkt bringen.
VI.4 Zusammenfassung: Selbststeuerung der Selbststeuerung
Wenn die Selbststeuerung der Funktionssysteme reflexiv wird, dann handelt es sich um eine Selbststeuerung ihrer Selbststeuerung; denn es wird funktionssystemintern versucht, die eigene Steuerung auf einen ganz bestimmten Fokus auszurichten: auf die jeweils selbstreferentiell-funktionssystemische Abhängigkeit von fremdreferentiellen Bedingungsfaktoren. Wenn eine derartige Selbststeuerung gelingen würde, wäre der Staat bezüglich seiner Steuerungsintentionen entlastet. Er könnte sich im Hinblick auf die Steuerung der gesellschaftlichen Teilsysteme zurückziehen, da diese sozusagen selbststeuernd und in Eigenregie wechselseitige Abstimmungen vornehmen, die die Vernetzung der differenzierten Teile im Auge behalten und damit die Integration der Gesellschaft trotz hochgradiger Differenzierung gewährleisten. So ließe sich schließlich zusammenfassen, dass – systemtheoretisch gesehen – die Realisierung von staatlichen Steuerungsbestrebungen zwar unwahrscheinlich ist, aber nicht gesellschaftliche Steuerung als solche; denn diese ist jeweils funktionssystemisch, also heterarchisch und möglicherweise auch interfunktionssystemisch möglich und nötig.
Schlußbetrachtung: Die Rolle des Staates in der postmodernen Gesellschaft
Ich habe versucht, die These systemtheoretisch zu belegen, dass es unwahrscheinlich ist, dass staatliche Steuerungsintentionen in der Art und Weise wirken, wie es von den staatlichen Akteuren intendiert wurde. Darüber hinaus sollte deutlich werden, welche alternativen Vorstellungen von einer systemtheoretischen Steuerungs- und/oder Staatstheorie vorgeschlagen werden, um gesellschaftliche Prozesse zu regulieren. Abschließend soll versucht werden, die zentralen Aspekte einer systemtheoretischen Staatstheorie zusammenfassend zu explizieren.
Der Staat, der dem politischen System als Form seiner Selbstbeschreibung und demselben sowie anderen Funktionssystemen oder ‘lebensweltlichen’ Kommunikationen als Zurechungsinstanz für kollektiv verbindliche Entscheidungen dient, hätte aus der systemtheoretischen Perspektive drei politisch realisierbare Funktionen – erstens: Anleitung zur Selbststeuerung der Funktionssysteme; zweitens: kontextuelle Kontrolle und drittens: Definition des öffentlichen Interesses (Willke 1996, S. 706). Diese drei Aufgaben umschreiben zunächst einmal jenes, was ich in den Abschnitten dieser Arbeit im einzelnen ausgeführt habe, nämlich, dass das politische System in einer funktional differenzierten Gesellschaft an die Grenzen seiner Steuerungsmöglichkeiten stößt und deshalb nur dafür sorgen kann, dass die Funktionssysteme sich in bestimmten kontextuellen, staatlich juristisch vorkonstruierten Rahmen selbst steuern. Was die Politik darüber hinaus im Kontext der anderen Funktionssysteme insbesondere bieten kann, „ist eine Entscheidungsleistung: nämlich die Definition des ‘öffentlichen Interesses’ hinsichtlich einer zum politischen Problem gewordenen Frage“ (Willke 1996, S. 707). Diesbezüglich bringt die Politik also bestimmte öffentlich relevante Fragen wie Arbeitslosigkeit, ökologische Gefährdungen, Gewalt etc. in den Diskurs der Funktionssysteme und versucht etwa mittels Schaffung rechtlicher Verfahren, adäquate Reaktionsweisen der Funktionssysteme auf diese Probleme herauszufordern.
Nach Willke (1989; 1992; 1996) wäre die Funktion des Staates in funktional differenzierten Gesellschaften trotz zunehmender Staatsaufgaben bezüglich des Auftretens immer neuer Risiken und Gefährdungen für die Bürger eine bescheidenere als es sowohl in traditionellen (z.B. konservativen oder marxistischen) als auch in aktuell diskutierten Staatstheorien angedacht ist (14).
Wie jedoch die Bescheidenheit der Politik bezüglich steuernder Interventionen durch konkret realisierbare dezentrale, kontextuelle, funktionssystemisch selbststeuernde Konzepte kompensiert werden soll, bedarf in der Zukunft wohl noch einer umfangreichen sozialwissenschaftlichen Diskussion. Auch wenn das mittlerweile normal gewordene Scheitern politischer Steuerungsintentionen konstatiert und systemtheoretisch erklärt werden kann, heißt das nicht zwangsläufig, dass gesellschaftliche Steuerung an sich unmöglich oder unnötig geworden ist. Vielmehr stellt sich die Frage, wie staatliche Aufgaben – z.B. bezüglich der Probleme der Gewalt, der Armut und der Ignoranz (siehe Abschnitt III.1) – erfolgversprechender als bisher gelöst werden können.
Einen Ansatzpunkt dafür sieht Willke (1995b), das sei hier lediglich kurz erwähnt, in einer „Transformation der Demokratie als Steuerungsmodell hochkomplexer Gesellschaften“. Um nur einen Aspekt herauszugreifen, beschreibt er, wie die enge Verzahnung von Demokratie und Hierarchie gelöst wird, wenn sich Akteursnetzwerke und Verhandlungssysteme „an den Grenzflächen von Demokratie und Hierarchie“ (ebd., S. 297) einnisten. Besonders durch eine temporäre Etablierung von Verhandlungssystemen, die gesellschaftliche Akteure für einen Problemkontext zusammenbringen und vernetzte Entscheidungsstrukturen ermöglichen (vgl. ebd., S. 288), könnte Heterarchie als Steuerungs- bzw. Koordinationsprinzip getestet und/oder eingeführt werden. Im Kontext einer heterarchischen gesellschaftlichen Differenzierung und Selbstorganisation wären derartige vernetzte Entscheidungsstrukturen möglicherweise passender als jene hierarchischen, die in (demokratischen) Ministerien, Bürokratien oder Ämtern beobachtet werden können.
In den praktisch relevanten Schlussfolgerungen, die aus der systemtheoretischen Steuerungstheorie abgeleitet werden können, geht es um die Prüfung von Möglichkeiten, wie trotz Autonomie und Eigeninteressen der konkreten Akteure dennoch – auch bezüglich gemeinwohlorientierter Lösungen (vgl. ebd., S. 297ff.) – gegenseitige Koordination möglich ist. So schließe ich meine Arbeit mit der Feststellung, dass die staatliche Steuerungsimpotenz nicht zum tragischen Verzweifeln führen muss, sondern vielmehr die Möglichkeit der Entwicklung einer ironischen Abstimmungspotenz bietet: „Die Einsicht, daß die selbst-referentiellen Semantiken komplexer Systeme nicht vereinbar sind, und dennoch unerschrocken für wechselseitige Abstimmung einzustehen, unterscheidet den ironischen vom tragischen Beobachter“ (Willke 1992, S. 321).
Fußnoten
(1) An diese Normalität der – aus der Sichtweise der Steuerungsoptimisten – Nicht-Normalität scheinen wir uns inzwischen gewöhnt zu haben; zumal wir uns „tagtäglich, falls uns die in den Nachrichten verbreiteten Absichtserklärungen und Versprechungen der Politiker nicht reichen, über kritische Kanäle darüber informieren, was alles trotz drängenden Bedarfs nicht geregelt und entschieden wird, was zwar geregelt wird, aber unvollständig bleibt, was in die ‘falsche’ Richtung geht, bei der Implementierung scheitert oder sich gar ins Gegenteil wendet“ (Bardmann 1991, S. 13).
(2) Diese wissenschaftliche Herleitung läßt sich mit den (kognitivistisch-konstruktivistischen) Epistemologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela (1987, S. 34) als vierstufiger zirkulärer Prozeß vorstellen: 1. Beschreibung des zu erklärenden Phänomens (z.B. des Scheiterns von staatlichen Steuerungsbestrebungen); 2. Konstruktion bzw. Anwendung eines Systems von Konzepten, welches das zu erklärende Phänomen in einer intersubjektiv annehmbaren Weise (re-)konstruiert (siehe dazu vor allem Abschnitt II und III dieser Arbeit); 3. Ableitung von weiteren (unter 1. nicht berücksichtigten) Phänomenen sowie Beschreibung der (intersubjektiven) Beobachtungsbedingungen; 4. Beobachtung dieser aus 2. abgeleiteten Phänomene und Rückbezug auf 1.
(3) Daß dieser Anschluß nicht selbstverständlich ist, lässt sich leicht einsehen. Denn die Voraussetzung für kommunikative Anschlussfähigkeit ist ein wechselseitiges Beobachtungsverhältnis, das einer Handlung bzw. einem Verhalten erst den Status einer Mitteilung (von Information) gibt. Solange Verhalten oder andere Äußerungen, unabhängig davon ob sie psychisch als Handlung intendiert werden, keinen kommunikativen Mitteilungscharakter durch Beobachtung bekommen, sind sie sozusagen nicht-sozial. Aber wenn sich diese Beobachtung erst einmal kontinuierlich einstellt, dann gibt es, wenn man so sagen darf, keine soziale Flucht mehr, dann bekommt jedes Verhalten einen kommunikativen (Handlungs-)Wert, so dass nicht mehr nicht kommuniziert werden kann (vgl. ausführlich dazu Watzlawick 1969 oder auch Luhmann 1984, S. 562).
(4) Alle Professionen, die psychische, soziale oder psycho-soziale Veränderungen intendieren, sind deshalb gut beraten, wenn sie für Kontingenz, salopp gesagt: für die Möglichkeit, dass alles anders kommen kann als erwartet, offen sind. Der Begriff Kontingenz, der präzise formuliert, bezeichnet, dass „[…] Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes […] weder notwendig ist noch unmöglich ist […, sondern…] so, wie es ist (war, sein wird) sein kann, aber auch anders möglich ist“ (Luhmann 1984, S. 152), hat in der modernen sozialwissenschaftlichen Systemtheorie einen zentralen Stellenwert (vgl. etwa ebd., S. 148ff.).
(5) Luhmann (1989, S. 329) illustriert z.B. mit den „sehr wertgeladene[n], gewerkschaftsunterstütze[n] Programme[n] zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen“ derartige nicht-intendierte Steuerungsnebenfolgen. Denn mittlerweile – so Luhmann mit Bezug auf eine Studie von Helena Flam aus dem Jahre 1987 (Market Configurations: Toward a Framwork for Socio-Economic Studies, in: International Sociology 2: S. 107 – 129) – bekämpften gerade Frauen diese Programme, weil sie zu deren Exklusion vom Zugang zum Arbeitsmarkt führten. Des weiteren könnten etwa durch Umweltauflagen, die für bestimmte Betriebe (beispielsweise als emissionsverringernde Maßnahmen) nicht finanzierbar sind, die Zahl von betrieblichen Konkursen steigen (vgl. Luhmann 1988, S. 147). Das politisch zunächst positiv bewertete Resultat einer möglichen Verringung der Umweltbelastung hätte damit einen politisch negativ bewertbaren Effekt, z.B. im Hinblick auf steigende Arbeitslosenzahlen durch konkursbedingte Betriebsschließungen.
(6) Niklas Luhmann hat diesbezüglich im Verlaufe der letzten zehn Jahre eine Reihe von Büchern veröffentlicht, die die These der funktionalen Differenzierung am Beispiel der Funktionssysteme Wirtschaft (siehe Luhmann 1988), Wissenschaft (siehe Luhmann 1990), Recht (siehe Luhmann 1993) und Kunst (1995) jeweils ausführlich darstellen. Wie Luhmann (1997, S. 12) in seiner letzten großen Publikation, dem zweibändigen Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft, noch anführte, sollten weitere Texte folgen, die die funktional differenzierte Gesellschaft im Hinblick auf die Operationsweise ausdifferenzierter gesellschaftlicher Funktionssysteme analysieren. So wurden aus dem Nachlass bisher veröffentlich Die Politik der Gesellschaft (siehe Luhmann 2000a) und Die Religion der Gesellschaft (siehe Luhmann 2000b).
(7) Die Einheit des ersten und des zweiten Aspekts scheint paradoxieverdächtig zu sein; denn es wird eine Gleichzeitigkeit von Independenz und Interdepenz konstatiert. Diese Paradoxie lässt sich entfalten, wenn betrachtet wird, dass sich Independenz auf die Funktionen und Interdependenz auf die Leistungen der jeweiligen Teilsysteme beziehen. (Zur Unterscheidung von Funktion und Leistung am Beispiel des Funktionssystems Wissenschaft siehe Luhmann 1977, S. 324).
(8) Am Beispiel der ökologischen Kommunikation hat Luhmann (1986) gezeigt, dass das gesellschaftlich relevante Thema der zunehmenden Umweltgefährdung und mithin Risikoerzeugung nur nach Maßgabe der wichtigsten Funktionssysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung, Religion diskursiv und materiell bearbeitet werden kann. Eine ökologische Kommunikation, die etwa versucht, mittels Ethik (vgl. ebd., S. 259ff.) eine alle Funktionssysteme transzendierende Perspektive einzunehmen und daraus normative Vorgaben ableitet, die funktionssystemübergreifend, sozusagen zentalistisch wirken sollen, wird – systemtheoretisch gesehen – an den jeweiligen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, pädagogischen oder religiösen Eigenlogiken scheitern.
(9) An diesem Punkt soll nur angemerkt werden, dass der Begriff ‘Beobachten’ systemtheoretisch sehr abstrakt angelegt ist und von einer ausschließlichen subjektiv-psychischen Systemreferenz abstrahiert; denn beobachten, d.h. unterscheiden und bezeichnen zwecks Informationsgewinnungkönnen alle selbstreferentiell-geschlossenen, autopoietischen (biologischen, psychischen und sozialen) Systeme, da es sich um differenzkonstituierte und -konstituierende Systeme handelt (vgl. etwa Luhmann 1984; 1990).
(10) Wie Willke (1996, S. 687) betont, ist mit „der Etablierung eines politischen Systems innerhalb einer Gesellschaft auf der Grundlage eines Herrschaftsvertrages […] zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer säkulären Begründung gesellschaftlicher Ordnung gegeben. Faktisch ist das Problem der Legitimität aber zunächst verschoben auf das Problem der Legitimität politischer Herrschaft oder genauer: auf das Problem der Legitimität der Regeln, nach denen die Politik ihre Funktion der Produktion verbindlicher Entscheidungen organisiert“.
(11) Diese Binnendifferenzierung des politischen Systems ist nichts anderes als die Realisierung der Idee der Gewaltenteilung nach Montesquieu (vgl. dazu auch Willke 1996, S. 687).
(12) Diese drei von Willke genannten Probleme verweisen auf drei zentrale Staatsaufgaben: dem Schutz der Bürger vor Gewalt durch Monopolisierung der Gewalt (vgl. ausführlich Willke 1992, S. 216ff.), dem Schutz der Bürger vor gesellschaftlich, sozusagen sozial-strukturell, also in erster Linie nicht individuell bedingte Armut (vgl. ebd., S. 239ff.) und 3. – als relativ neue Staatsaufgabe in einer ‘Risikogesellschaft’ (siehe Beck1986) – der Schaffung einer wissensbasierten Infrastruktur, um das Risiko, dass jede Entscheidung eine Gefahr für andere in sich birgt, unter Nutzung des nötigen und möglichen Wissens abzufedern (vgl. Willke 1992, S. 262ff.). Es ist leicht zu sehen, dass die Beschreibung der ersten beiden Staatsaufgaben auf Staatsmodelle wie Rechts- und Wohlfahrtsstaat rekurrieren, wobei die dritte Aufgabe ein neues Staatsmodell in Sichtweite bringt: den präventiven bzw. den Supervisionsstaat (vgl. ausführlich dazu etwa ebd., S. 300f. oder Willke 1996, S. 703).
(13)Zur Kritik dieses Ansatzes siehe Rosewitz und Schimank 1988, S. 303f., die anmerken, dass erstens die Voraussetzungen der Selbsteuerungsfähigkeit der jeweiligen Funktionssysteme nicht ausreichend berücksichtigt werden und zweitens Machtasymmetrien zwischen unterschiedichen Teilsystemen unproblematisiert bleiben.
(14) Wie Willke (1995b, S. 287) meint, ohne allerdings Beispiele anzuführen, „gehen gegenwärtige Theorien der Politik immer noch von einem expansiven Politikverständnis aus. Es weist der Politik die hierarchische Spitze und mithin den Steuerungsprimat in der Gesellschaft zu“.
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